Das Dorf der Wunder. Roy Jacobsen

Das Dorf der Wunder - Roy Jacobsen


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im leeren und von Rauch beschädigten Laden von Antti, hier bei Roosa und Luukas hatte ich alles, Stühle und Tische und Betten, Teller und Besteck, abgesehen von Essen, aber ich hatte das Schwein im Baum und das wenige, was ich hatte einstecken können, als wir Anttis Schlitten beladen hatten.

      In der Speisekammer fand ich außerdem einen Krug voll Schmalz, einen Eimer voller gefrorener Milch und einen Sack voll grobem Salz. Der Stall war abgebrannt, aber nicht bis auf den Grund. Ich machte mich daran, die verrußten Reste abzureißen und sie zu Brennholz zu zerhacken, die Wände waren aus Baumstämmen gewesen, trockene Tanne, und als der Abend kam, hatte ich einen hübschen Stapel Holz, der mindestens für vier Wochen reichen würde.

      Ich ging zurück in den Wald, holte das Schwein, salzte die Hälfte des Fleisches ein und ließ den Rest in der eiskalten Speisekammer hängen. Dann kochte ich, als ob ich dort wohnte, und aß, und ich dachte, wenn ich auch noch Kaffee gehabt hätte, hätte ich es fast gut gehabt. Und bei diesem Gedanken schlief ich ein – mit dem Kopf zwischen den Krümeln auf der Tischplatte, und ich träumte, ich stünde vor einer verschlossenen Tür und könnte meinen Namen nicht finden, ich würde aber nur eingelassen werden, wenn ich meinen Namen fände, doch wo war der? Ich rieb mir die Augen, bis ich nichts mehr sehen konnte, und noch immer hatte ich keinen Namen gefunden – ich erwachte erst, als ich vollkommen aufgegeben hatte, und da war ich so erschöpft wie vorher.

      In einem Spiegel an der Wand über dem Ausgussbecken sah ich, dass meine Augen rot waren wie zerquetschte Preiselbeeren, sie waren bis zum Rand gefüllt mit Rauch und Wasser, Augenbrauen und Haare waren weggesengt, meine Wangen flammendrot und die Haut auf der Nase dünn wie Fliegenflügel. Aber mir blieb nichts anderes übrig, als mich anzuziehen und hinauszugehen und die Stadt genauer in Augenschein zu nehmen, daran führte kein Weg vorbei, und ich bin oft gefragt worden, ob ich keine Reue verspürte, nicht einmal in diesem Moment, weil ich geblieben war, aber die Antwort ist noch immer Nein, und sie hat auch niemals anders gelautet.

      Im Laufe dieser, ich weiß nicht, wie vielen Stunden, in denen ich geschlafen hatte, hatte es geschneit, und die Stille war tiefer als in meiner Erinnerung, nicht einmal Schüsse waren in den Wäldern zu hören, nur ein Winter, durch und durch tot, im Himmel und auf Erden.

      In den schwelenden Ruinen war nicht viel zu finden, abgesehen von wirbelndem Ruß und einer Menge blauem Metallschrott, den ich mit einer Eisenstange herauswühlte und dann einsammelte, nachdem er im Schnee abgekühlt war, abermals ohne darüber nachzudenken, warum, so ist das, wenn man Chaos sieht, man versucht, Ordnung zu schaffen, vor allem unter Dingen, die man mag, und ich hatte immer schon eine Vorliebe für Werkzeug und Geräte; ich fand Spatenblätter und schaftlose Forken, Brecheisen, Sägeblätter, Kettenreste, Zaumzeug und Werkzeug ohne Leder und Handgriffe, amputierte Glieder, ich brauchte fast den ganzen Tag, um sie einzusammeln und vor dem Haus von Luukas und Roosa auf einen Haufen zu legen. Es fing an als mechanisches Manöver, aber nach und nach ähnelte es eher einem Spiel, und ich dachte, es müsste schon möglich sein, es wieder zusammenzusetzen, neue Schäfte für diese ganze Ausrüstung zu schmieden, die einmal so wertvoll und nötig dafür gewesen war, dass die Stadt so hatte werden können, wie sie geworden war, Schraubenzieher, Hammerköpfe, Bohrer, Stemmeisen, Wendehaken, Eisenkeile, Autos, Hufeisen, Kinderwagenrahmen, Wasserpumpen, Steigeisen, Petroleumlampen, Fensterhaspeln und Fahrradräder ... mehrere Gegenstände ließen sich kaum identifizieren, die Eingeweide einer Uhr, verkohlte Reste eines Absatzeisens, eine Hundeleine, etwas, das sicher einmal ein Schmuckkasten gewesen war, Beerenpflücker, Türklinken und eine Handvoll Schreibfedern – die fand ich in den Ruinen der Schule –, das Stativ eines Globus, die verkrümmten Skelette eines Haufens von Jalousien, und Kabelenden, die aussahen wie versteinerte Insekten.

      Im Keller unter der Flößerhütte, der nicht abgebrannt war, sondern Dach und Wände bekommen hatte, als die Hütte in die Luft gegangen war, fand ich außerdem eine fast halbvolle Zweikilodose Kaffee, und unter der schwelenden Kellerluke des Nachbarhauses verbargen sich ein Sack mit braunversengtem Mehl und ein Korb mit schwarzen hartgekochten Eiern; in einem anderen Keller standen vier Glas Rhabarbermarmelade, die noch einmal gekocht worden war, sowie eine Kanne mit warmem Wodka, fünf ausgebeulte Konservendosen ohne Etikett und einige Kilo rußiger Graupen.

      Von diesem allem aufgemuntert fing ich an, die restlichen Häuser durchzusehen, aber in denen war es so unheimlich, wie es vor dem Brand auf den Straßen gewesen war, ich wanderte zwischen nackten Menschen einher, die nicht atmen konnten, ich berührte nur wenig, ich sah mich um und musste immer wieder enttäuscht nicken, wenn ich eine leere Speisekammer vorfand.

      Aber dann machte ich zwei Entdeckungen: Zum einen war nicht alles Lebende aus der Stadt verschwunden, die Katzen waren noch da, einzelne von ihnen sah ich mit eigenen Augen, von anderen sah ich nur die Spuren, und es wurden immer mehr Spuren, kreuz und quer durch den Schnee, der sich jetzt wie funkelnd weißes Mehl über dem vielen Schwarz ausbreitete.

      Dann fand ich einen Brief, auf dem Küchentisch in dem Haus hinter der Schule, das einer alten Frau gehörte, die von uns Pabscho genannt wurde, obwohl sie ebenso finnisch war wie wir anderen, aber sie war schon, so weit irgendjemand von uns sich zurückerinnern konnte, krumm und grau wie altes Holz gewesen. Sie hatte ihr Heim in dem gleichen frischgeputzten und ordentlichen Zustand hinterlassen wie Luukas und Roosa. Und das kam mir jetzt langsam rätselhaft vor, weshalb ich den Brief öffnete und ihn las.

      Die alte Frau hatte eine schwierige Schrift, aber ich bin ein guter Leser, und auf dem Bogen hatte sie zuerst mit einem wackeligen Lineal Zeilen gezogen, dann hatte sie mit einem ebenso wackeligen Bleistift geschrieben, die Soldaten könnten ruhig alles niederbrennen und brauchten sich nicht zu schämen, sie habe geputzt und sich alle Mühe gegeben, um Finnland ein Geschenk machen zu können, das sich sehen lassen durfte.

      Aber nun stand das Haus ja unverbrannt hier.

      Nun entdeckte ich, dass der Brief noch einmal zugeklebt worden war, er war von schmutzigen und ungeduldigen Fingern aufgerissen und vermutlich gelesen worden, ehe ich gekommen war; auf dem Boden in der ansonsten so ordentlichen Küche lag ein Haufen Stroh und Holzscheite, während der Flickenteppich nach Petroleum stank und eine Kanne in der Ecke beim Spülbecken lag. Ich hielt Ausschau nach Streichhölzern oder Hinweisen auf misslungene Anzündeversuche, konnte aber keine finden.

      Als ich eine Weile dort gesessen und den Brief noch einmal gelesen oder ihn nur angesehen hatte, wie man eben Buchstaben anstarren kann, ohne sie wirklich zu lesen, während die Gedanken mit dem, was man nicht ganz begreifen kann, das ihre anstellen, ging mir langsam auf, dass der Soldat, der hier hatte Feuer legen sollen, den Brief gelesen hatte und danach den Befehl nicht ausführen konnte, er hatte dieses Geschenk an Finnland nicht verbrennen können.

      Ich fragte mich, ob das wohl bedeuten mochte, dass wir diesen Krieg verlieren und als Volk zugrunde gehen würden. Aber dann kam ich doch zu dem Schluss, dass ein Land mit solchen Müttern und solchen Soldaten einfach nicht verlieren kann, egal, was geschieht, solche Völker überleben, wenn andere das nicht tun; deshalb freute ich mich unsäglich über die Entdeckung, dass noch vier weitere Häuser so frischgeputzt und ordentlich waren, dass in jedem der verlassenen Räume eine Sonne schien. In dem Haus, das dem von Luukas am nächsten lag, fand ich außerdem eine Wanduhr, und ich beschloss, sie auszuleihen oder zu beschützen, ich weiß nicht genau, was, jedenfalls nahm ich sie mit, eine Wanduhr, die noch alle Zahnrädchen hatte, mit Zifferblatt, Schlüssel und Zeigern und auch dem Geräusch wie den Pulsschlägen eines Wesens, bei dem es sich um den letzten Freund der Menschen handeln muss.

      Ich ging zurück und machte Feuer in Roosas großem Herd in der Küche, schlug mit einem Hammerschaft einen blauen Nagel in die Wand und hängte die Uhr zwischen die Verwandtschaft aus Raatevaara, danach machte ich mich daran, Brot zu backen und Kaffeebohnen zu rösten und langsamer und gründlicher zu essen als seit langer Zeit – zum Nachtisch gab es lauwarme Rhabarbermarmelade mit einem Spritzer Milch. Und damit war ich für diesen Abend fertig.

      Im Haus gab es Lampen und Petroleum, und auch Kerzen, aber ich beschloss zu warten, bis die Dunkelheit auf ihre eigene Weise diesen seltsamsten Tag meines Lebens zum Verlöschen gebracht hätte, diesen Tag, der sich aufgrund der Stille, der Katzenspuren und der frisch geputzten Häuser verändert oder die Maschinerie in mir auf den Kopf gestellt hatte, die denkt, wenn ich selbst das nicht tue, oder die mich vielleicht


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