Michael Endes Philosophie. Alexander Oberleitner

Michael Endes Philosophie - Alexander Oberleitner


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die der Autor im Laufe seines Lebens mit diversen Kunstschaffenden, aber auch Politikern und anderen Personen des öffentlichen Lebens führte, stellen eine wichtige ergänzende Quelle für jeden dar, der Endes Denken aus den beiden Romanen zu erschließen versucht,24 wobei natürlich der Unterschied zwischen Poesie und Argumentation (vgl. Abschnitt C.1) stets mitzubedenken bleibt. Dasselbe gilt für die zahlreichen erhaltenen Briefe Endes, der selbst am Höhepunkt seines internationalen Erfolges bemüht war, jede einzelne Zuschrift persönlich zu beantworten. Nicht berücksichtigt werden konnten hingegen – aus nachvollziehbaren Gründen – all jene Werke, die als Frucht von Endes Diskussionen mit japanischen Künstlern und Intellektuellen entstanden und bis heute nicht aus dem Japanischen übersetzt wurden.25 Es ist gut möglich, daß sich hier noch Aspekte verbergen, welche die Ende-Forschung wesentlich bereichern würden. Generell wäre es hoch an der Zeit für eine Zusammenführung der deutsch- und japanischsprachigen Zweige des Diskurses um Ende – von welcher Seite auch immer.

       B.Biographische und textliche Grundlagen

      […] ich kann mir gut vorstellen, daß ein Buch wie die Unendliche Geschichte […], wenn es 20 Jahre früher erschienen wäre, kein Publikum gefunden hätte. Vorher war man sich sehr einig darüber in der gesamten Literaturszene, daß nur die […] realistische Literatur wirkliche Literatur ist. Es mußten also erst diese 20 Jahre vergehen und eine gewisse Übersättigung eintreten. Und in die hinein erschien plötzlich mein Buch und fand ein großes Publikum. Das war nicht berechnet und nicht beabsichtigt. Das ist mir halt widerfahren. – Michael Ende –

       1.Biographische Andeutungen 26

      Michael Andreas Helmuth Ende wird am 12. November 1929 als einziges Kind des aus Hamburg stammenden surrealistischen Malers Edgar Ende und der Preziosenhändlerin Luise Ende (geb. Bartholomä) aus dem Saarland im bayerischen Garmisch-Partenkirchen geboren. Der sich abzeichnende Erfolg des Vaters erlaubt es der Familie schon 1931, in die damalige Kunsthauptstadt München zu übersiedeln. Doch Edgar Endes Aufstieg als Maler rätselhafter, visionärer und oft bedrückend intensiver Traumwelten wird 1933 von der Machtergreifung der Nationalsozialisten, die sein Werk wie so vieles andere als »entartet« einstufen, jäh unterbrochen. Der Verhinderung von Ausstellungen und dem Ausbleiben jeglicher öffentlicher Aufträge folgt 1936 das endgültige Berufsverbot, das die Familie in eine ernsthafte materielle Krise stürzt. Im selben Jahr wird Michael Ende eingeschult, womit für das sensible und künstlerisch begabte Kind ein beinah zehnjähriger »Gefängnisaufenthalt«27 im autoritären Schulsystem des Dritten Reiches beginnt. 1944, als er im Zuge der sogenannten Kinderlandverschickung einige Zeit in seiner Heimatgemeinde Garmisch-Partenkirchen verbringt, erhält er als gerade 15jähriger den Stellungsbefehl. Er ignoriert ihn, schlägt sich zur Mutter nach München durch und schließt sich der Widerstandsbewegung »Freiheitsaktion Bayern« an, die ihn mit kleineren Botenaufträgen betraut.

      Dem erlösenden Kriegsende folgt bald auch die Befreiung aus dem schulischen Martyrium: Ende erhält die Möglichkeit, seine letzten beiden Schuljahre in der wiedereröffneten Freien Waldorfschule bei Stuttgart zu absolvieren (die Eltern stehen der anthroposophischen Bewegung nahe), wo er zum ersten Mal nachdrückliche Förderung seiner künstlerischen Begabungen erfährt (s. u.). Mit dem festen Vorsatz, Dramatiker zu werden, kehrt er 1948 nach München zurück. Ein Literaturstudium stellt sich indes als unfinanzierbar heraus, weshalb sich Ende für den »Umweg« über die Otto-Falckenberg-Schauspielschule, die ihm ein Stipendium gewährt, entscheidet. Die Jahre an der jungen und progressiven Schule, von Heinrich Sauer für damalige Verhältnisse geradezu antiautoritär geführt, erweisen sich in mancher Hinsicht als prägend für Endes spätere Entwicklung. Hier lernt er im Kreise seiner Mitschüler, von denen viele später bemerkenswerte Laufbahnen einschlagen,28 jenes Theatermilieu kennen, zu dem er zeit seines Lebens intensive Beziehungen pflegt; hier rezipiert er begeistert die Dramen und Theorien des großen Brecht, die ihm in der Folge sowohl Segen als auch Fluch werden. Denn jene von Brecht inspirierten dramatischen Versuche, die Ende während und nach dem Abschluß seiner Ausbildung verfaßt – von der Komödie Sultan hoch zwei (1950) bis zum absurden Drama Die Häßlichen (1955) – scheitern allesamt kläglich und gelangen nie zur Aufführung. Es will und will ihm nicht gelingen, die Vorgaben seines Idols (dem er zu jener Zeit sogar in der äußeren Erscheinung nacheifert)29 in adäquate künstlerische Formen zu gießen. Als Reaktion vertieft er sich nur noch mehr in Brechts theoretische Schriften wie etwa Das kleine Organon, bis deren ideologische Last sein eigenes Schaffen praktisch zum Erliegen bringt. Endes einziger Lichtblick in jener krisenhaften Zeit ist persönlicher Natur: In der Silvesternacht 1952 lernt er seine spätere Frau Ingeborg Hoffmann kennen, eine engagierte und erfolgreiche, wenn auch bei Regisseuren und Kollegen ob ihrer Direktheit in zwischenmenschlichen und Kompromißlosigkeit in künstlerischen Belangen gefürchtete Schauspielerin. Sie ist es auch, die Ende 1954 zum Bayerischen Rundfunk vermittelt, wo er vor allem als Filmkritiker arbeitet. Leben kann er davon kaum: »Meine finanziellen Umstände waren so finster, daß ich meine Miete nicht mehr bezahlen konnte. Ich mußte von einem halben Liter Milch und ein paar Semmeln leben. Mir ging es hundsmiserabel […].«30

      Künstlerische und materielle Krise lösen sich indes mit einem Schlag. Im Jahr 1956 trifft Ende einen befreundeten Grafiker, der ihn bittet, einen »kurzen Text für ein Bilderbuch«31 zu verfassen. Ohne den geringsten Handlungsentwurf beginnt er die Arbeit mit den berühmt gewordenen Worten: »Das Land, in dem Lukas der Lokomotivführer lebte, war nur sehr klein.«32 Durch absichtsloses Voranschreiten von Satz zu Satz, in bewußter Abkehr von jeder poetologischen Doktrin, entsteht aus diesem Anfang nach und nach die wundersame Welt von Lukas und seinem kleinen Freund Jim Knopf, der seine wahre Heimat finden muß. Als Ende das Manuskript nach zehn Monaten abschließt, ist aus dem kurzen Bilderbuchtext ein über 500seitiger Roman geworden, der schließlich in zwei Bänden (Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer und Jim Knopf und die Wilde 13) 1960/62 im Stuttgarter Thienemann Verlag erscheint. Schon der erste Teil wird ein überwältigender Erfolg und noch im Jahr seines Erscheinens mit dem Deutschen Jugendbuchpreis prämiert – sehr zur Verwunderung des Autors: »Ich hatte, ehrlich gesagt, noch nicht einmal eine Ahnung, daß solche Preise überhaupt existieren […].«33 Sein Durchbruch als Künstler entledigt Ende auch aller materiellen Sorgen – bis zur Katastrophe um die Verfilmung der Unendlichen Geschichte (s. u.).

      Schnell allerdings zeigen sich auch die Schattenseiten des Erfolges. In der deutschen Literaturszene tobt gerade die sogenannte Eskapismus-Debatte, in die Ende ganz gegen seinen Willen hineingezogen wird. Ausgerechnet er, der sich gerade erst von den didaktischen Fesseln der Brechtschen Kunsttheorie zu befreien beginnt und dessen gesamtes Werk in geradezu exemplarischer Weise sozialkritisch ist, sieht sich plötzlich als typischer Verfasser von »Fluchtliteratur« gebrandmarkt, die den Blick auf die ökonomischpolitisch-soziale »Realität« verstelle. 1970 hat Ende es schließlich satt, sich ständig für seine Art des Schreibens rechtfertigen zu müssen, und zieht mit seiner Frau nach Genzano bei Rom, wo er 1973 den noch in Deutschland begonnenen Märchenroman Momo vollendet. Obwohl in Aufbau und erzählerischer Brillanz dem späteren Welterfolg Die unendliche Geschichte durchaus ebenbürtig, findet Momo ursprünglich wenig Resonanz. Erst nach der Prämierung mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 1974 beginnen sich die Leser langsam für Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte (so der Untertitel) zu interessieren. Zwischen und neben seinen Romanen verfaßt Ende ungeachtet seiner Selbsteinschätzung als »schrecklich faul« (NG 299) zahlreiche Gedichte und kurze Erzählungen, vor allem aber Dramen, darunter das jahrelang kaum beachtete, später jedoch viel gespielte Gauklermärchen. 1977 ermutigt ihn sein Verleger Hansjörg Weitbrecht, sich wieder einmal an einen Roman zu wagen, und läßt sich diverse Ideen aus Endes »Zettelkasten« vortragen. Bei einer kurzen Notiz über einen Jungen, der beim Lesen eines Buches buchstäblich in die Geschichte hineingerät,


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