360 Grad - heisse Erzählungen. Marianne Sophia Wise

360 Grad - heisse Erzählungen - Marianne Sophia Wise


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späten Märzabends. Es hatte den ganzen Tag über geregnet und graue, matschige Schneereste trieben über den Gehsteig. Sie wohnte in einer Eigentumswohnung einer Wohnanlage in Vesterbro, einem Stadtteil Kopenhagens. Gerade war sie dabei, den Schlüssel ins Schloss der Haustür zu stecken, als sie eine Gestalt bemerkte, die auf der Stufe direkt vor ihr saß. Es war ein Mann, beinahe unsichtbar in seinem schwarzen Mantel und einem Schal, der sein Gesicht verdeckte. Er sah zu ihr auf, der Schal rutschte nach unten und ein bleiches Gesicht mit einer kleinen, blutenden Wunde auf der Stirn kam zum Vorschein.

      „Darf ich kurz vorbei?“, fragte sie. Ihre Blicke trafen sich, aggressionslos, er saß einfach nur da, bleich und blutig. Sie musste wohl gestarrt haben, denn er murmelte etwas von ein paar besoffenen Typen, die ihn ins Gebüsch gestoßen hatten. Er senkte seinen Blick, rückte an den äußersten Rand der Treppe und schlang die Arme um seinen Körper.

      Sie schloss auf und trat ein. Das Geräusch der zufallenden Tür ließ sie innehalten. Es war ein langer und anstrengender Tag im Büro gewesen und eigentlich hätte sie erschöpft sein sollen, doch der Anblick des Mannes auf der Treppe draußen füllte sie mit Energie. Dieses Gesicht. Sie musste es haben. Es könnte die Perle der Ausstellung werden, die Hauptattraktion. Sie drehte sich um und linste durch die Fensterscheibe der Eingangstür. Er saß noch immer da. Ein Gefühl der Anspannung überkam sie. Sie machte auf. „Möchtest du etwas zu essen und eine Tasse Kaffee?“

      Ein Ausdruck der Verwunderung lief über sein Gesicht, dann nickte er, kam auf die Beine und folgte ihr mit steifen Gliedern die Treppen hinauf.

      Als er über die Schwelle der großen Dachgeschoßwohnung trat, gab er ein kurzes Pfeifen von sich. Sie lächelte ein wenig – diese Reaktion war sie gewohnt, wenn Gäste ihre Wohnung zum ersten Mal sahen.

      Der Mann blieb bei der Wohnungstür stehen, sah sich um. Sie schaltete eine Wandlampe ein, weißes Licht fiel auf ihn nieder und machte seine dick eingehüllten Umrisse deutlicher und voluminöser. Seine Hände lugten aus den Mantelärmeln. Groß und fremd. Seine Kleidung war schäbig. Und stand er nicht sogar etwas unsicher auf den Beinen? War er krank? Oder drogenabhängig?! Erst jetzt überkam sie ein Gefühl der Angst. Sie war nahe daran zu bereuen, dass sie ihn nach oben gebeten hatte.

      „Ich bin clean“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Er kämpfte mit seinen Ärmeln, schob sie nach oben und streckte ihr seine Arme entgegen. Sie waren weiß und mager und ohne jegliche Spur von Einstichstellen. „Ich bin einfach nur obdachlos.“ Seine Stimme war schrill und doch zugleich sanftmütig.

      „Clean“, wiederholte sie für sich selbst und bat ihn mit geöffneter Hand, beim Tisch im Küchenbereich Platz zu nehmen. Als er sich setzte, bemerkte sie seinen Geruch, den süßsauren Gestank von anhaftendem Dreck. Unbehagen stieg in ihr hoch. Sie konzentrierte sich darauf, eine Tasse zu finden und die Espressomaschine anzuwerfen, belegte schnell einige Brote mit Schinken, Käse und Tomaten und schob sie in den Ofen. Sie warf einen Blick auf den Mann. Er hing förmlich über dem Küchensessel. Unter seiner Nase glänzte etwas Feuchtes. Mit Bewegungen, die aussahen, als würde sie sich selbst beruhigen wollen, holte sie die Kamera aus ihrer Tasche und ging ans andere Ende ihrer Wohnung, wo sie ein Atelier eingerichtet hatte. Sie holte einen Sessel, kramte einige Lampenstative hervor, befestigte einen Schirm an einem dieser Stative, schaltete die Glühbirne an und richtete sie aus, sodass die richtige Schattenwirkung im Spiel mit der weißen Wand entstand. Es sollte ein markantes Bild werden. Das bleiche Gesicht mit seiner Wunde, das an der Stirn klebende Haar, der magere Hals. Die Backenknochen würden Schatten werfen und die eingefallenen Wangen hervorheben. Die Augen würden grau und fern und doch so deutlich sein, im Ausdruck ihres ausgebrannten Leidens.

      Gerade war sie dabei die Kamera ins Stativ zu schieben, als sie eine merkwürdige Stille durch den Raum surren spürte und irgendetwas ihre Aufmerksamkeit auf den Küchentisch richtete. Der Obdachlose hatte sich ihr zugewandt und folgte ihr nun mit den Augen. Das Licht aus dem Atelier warf seinen Schatten hoch an die Wand hinter ihm.

      „Bist du Fotografin?“, fragte er?

      „Ja.“

      „Und du willst jetzt fotografieren?“ Nun war seine Stimme kräftiger und hatte etwas von ihrer Sanftmütigkeit verloren.

      „Ja.“

      „Und was?“

      Sie bemerkte die Hitze in ihrem Gesicht aufsteigen und konnte plötzlich die Worte nicht mehr finden. Das war sie nicht gewohnt. Sie hatte nie Probleme damit gehabt Leute zu fotografieren und sie zu fragen, ob sie das dürfe; hatte es immer als ihr gutes Recht empfunden. War es nicht der Wunsch aller Menschen, gesehen zu werden – sich selbst zu sehen?

      „Hast du mich deshalb zu dir hinauf gebeten?“

      Sie bohrte die Nägel in ihre Kamera. Der Mann war ihr zuvorgekommen. Sie hatte ihn falsch eingeschätzt, hatte geglaubt, er sei zu hungrig und verfallen, um etwas anderes als Essen und Trinken wahrzunehmen. Sie hatte sich vorgestellt, er würde nur dasitzen und dösen, während sie das Atelier vorbereitete und dann hätte sie ihn gefragt und er hätte ja gesagt.

      „Ich will nicht fotografiert werden“, sagte der Mann.

      Sie steckte die Kamera doch nicht ins Stativ. Vorübergehend. Sie würde ihr Bild schon noch bekommen. Langsamen Schrittes ging sie zurück, legte die Kamera auf den Tisch, setzte sich und traf den grauen Blick des Obdachlosen.

      „Denk doch mal darüber nach!“, sagte sie. „Ich bezahle dich. Das ist eine Arbeit. Models bekommen ja auch Geld. Es soll ein Bild werden, das ich ausstellen möchte … wenn das in Ordnung für dich ist“, fügte sie hinzu, ohne zu wissen, was sie tun würde, wenn er nein sagen würde.

      „Wie viel?“

      „Wie wäre es mit 500 Kronen für eine Viertelstunde? Ich habe zwar gerade kein Bargeld da, aber wir können gemeinsam zu einem Bankautomaten gehen und etwas abheben. Danach.“

      Die Espressomaschine verstummte. Sie stand auf, nahm die volle Tasse und stellte sie vor den Mann, der seinen Blick nun starr auf den Ofen gerichtet hielt, wo die Brote dicht aneinandergereiht unter dem roten Licht des Grills brutzelten. Sie holte eine Tafel dunkle Schokolade, legte einige Stücke in eine Schale neben dem Becher und schielte zu ihm hinüber, während er den warmen Kaffee schlürfte, offenbar um sich nicht zu verbrennen. Gebückt saß er in seinem Mantel auf dem Stuhl. Seinen Schal hatte er abgenommen und auf den Tisch gelegt. Sein Haar war braun und strähnig, die Augenbrauen hell und leicht gebogen. Wie alt er wohl war? Um die 40? Er war wohl einmal ein junger Mann gewesen, der davon geträumt hatte die Welt und deren Frauen zu erobern. Sie stellte sich seinen Körper unter all dem Gewand vor.

      Als sie den Teller mit den warmen Sandwichs vor ihn stellte, war die Schokolade weg. Sie legte den Rest der Tafel in die Schale und schob unauffällig den Serviettenhalter vom Tisch – sie wollte nicht riskieren, dass er sich das Gesicht damit säuberte. Das Blut der kleinen Wunde auf der Stirn saß perfekt.

      Mit einem Glas Wasser setzte sie sich an den Tisch. Kaffee trank sie so spät abends nie und sie hatte auch keine Lust, mit ihm zu essen. Außerdem hatte sie keinen Hunger. Viel zu nervös war sie. Der Obdachlose schnappte sich ein Sandwich und pustete. Seine Nägel waren lang und bohrten sich in das Brötchen.

      Schweigen. Er aß, sie nippte am Wasserglas und konnte ihren Blick nicht von seinem Gesicht wenden. Sie musste es einfach haben. Das hatte sie sich nun in den Kopf gesetzt. Sie war diejenige, die nicht clean war. Niemals würde sie ihr Narkotikum absetzen: Die Jagd nach dem perfekten Bild. Hatte sie einst die Spur aufgenommen, überfiel sie der Begierde, und suchte sie mit ihrem lechzenden, brodelnden Flüstern heim, das sich Tag und Nacht wie tausend mikroskopisch kleine Glasscherben in ihre Brust bohrten und kratzten. Dieser fast unmerkliche, aber konstante Schmerz verdrängte alles, das ihr etwas bedeutete. Freunde, Familie, die tägliche Arbeit im Büro. Es gab dann nur noch das Bild in ihr. Das Flüstern der Begierde hörte nicht auf, bevor sie den Rausch überstanden hatte und war erst der Fall, wenn sie das Bild in der Kiste hatte.

      „Was sagst du zu 500 Kronen?“ Sie legte die Hände auf den Tisch – bereit, sich die Kamera zu schnappen. Ihre Finger zitterten. Es schauderte sie. Nur ein paar Bilder. Nur ein paar


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