Nana. Emile Zola

Nana - Emile Zola


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ihn Frau Hugon so übermüdet sah, bedauerte sie ihn voller Mitleid.

      „Sie arbeiten zuviel. Sie sollten sich ausruhen . . . In unserem Alter muß man die Arbeit den jungen Leuten überlassen.“

      „Die Arbeit, ach ja, die Arbeit“, stammelte er schließlich. „Immer viel Arbeit . . .“ Er faßte sich wieder, richtete seine gebeugte Gestalt auf und fuhr mit der Hand — einer Bewegung, die häufig bei ihm war — über seine weißen Haare, deren spärliche Locken hinter seinen Ohren flatterten. „Woran arbeiten Sie denn so spät?“ fragte Frau du Joncquoy. „Ich glaubte Sie auf dem Empfang des Finanzministers.“

      Doch die Gräfin schaltete sich ein:

      „Mein Vater hatte einen Gesetzesentwurf zu studieren.“ „Ja, einen Gesetzesentwurf“, sagte er, „einen Gesetzesentwurf, ganz recht . . . Ich hatte mich eingeschlossen . . . Es handelt sich um die Fabriken; ich möchte, daß die Sonntagsruhe eingehalten wird. Es ist wirklich eine Schande, daß die Regierung nicht mit Nachdruck handeln will. Die Kirchen werden leer; wir gehen Katastrophen entgegen.“ Vandeuvres hatte Fauchery angesehen. Die beiden standen hinter dem Marquis und beschnupperten ihn.

      Als ihn Vandeuvres beiseite nehmen konnte, um mit ihm über jene schöne Frau zu sprechen, die er aufs Land mitnahm, heuchelte der Greis großes Erstaunen. Vielleicht habe man ihn mit Baronin Decker gesehen, bei der er manchmal einige Tage in Viroflay verbringe.

      Als einzige Rache fragte ihn Vandeuvres brüsk:

      „Sagen Sie, wo sind Sie denn vorbeigegangen? Ihr Ellbogen ist ja voller Spinnweben und Gips.“

      „Mein Ellbogen“, murmelte er leicht verwirrt. „Ach ja, es ist wahr . . . Ein bißchen Schmutz . . . Das werde ich mir geholt haben, als ich bei mir zu Hause die Treppe hinunterging.“

      Mehrere Leute gingen. Es war kurz vor Mitternacht. Zwei Diener räumten geräuschlos die leeren Tassen und die Kuchenteller ab. Vor dem Kamin hatten die Damen ihren Kreis neu gebildet und verengert und plauderten mit größerer Ungezwungenheit in der Mattigkeit dieses zu Ende gehenden Abends. Der Salon selber schlummerte ein; träge Schatten sanken von den Wänden herab. Jetzt sprach Fauchery davon, sich zurückzuziehen. Doch erneut vergaß er die Zeit, als er Gräfin Sabine betrachtete. Sie erholte sich von ihren Hausfrauenpflichten auf ihrem gewohnten Platz, stumm, die Augen auf ein Holzscheit geheftet, das glühend verbrannte, das Gesicht so weiß und so verschlossen, daß ihn wieder Zweifel ergriffen. Im Schein des Feuers schimmerten die schwarzen Härchen des Muttermals, das sie am Mundwinkel hatte, blond. Ganz und gar das Muttermal Nanas, sogar die Farbe. Er konnte sich nicht enthalten, Vandeuvres ein paar Worte darüber ins Ohr zu sagen. Tatsächlich, das sei wahr, niemals habe dieser das bemerkt.

      Und die beiden setzten den Vergleich zwischen Nana und der Gräfin fort. Sie fanden, sie hätten eine unbestimmte Ähnlichkeit um Kinn und Mund, jedoch die Augen seien keineswegs gleich. Außerdem sehe Nana wie ein gutmütiges Mädchen aus, während man bei der Gräfin nicht genau wisse; man hätte an eine Katze denken können, die mit eingezogenen Krallen schlief, die Pfötchen kaum von einem nervösen Schauer bewegt.

      „Immerhin würde man mit ihr schlafen“, erklärte Fauchery. Vandeuvres entkleidete sie mit Blicken.

      „Ja, immerhin“, sagte er. „Aber, wissen Sie, ich traue den Schenkeln nicht. Sie hat keine Schenkel, wollen Sie wetten?“ Er schwieg.

      Fauchery stieß ihn lebhaftam Ellbogen,wobei er mit einem Wink auf Estelle deutete, die vor ihnen auf ihrem Hocker saß. Ohne sie zu bemerken, hatten sie soeben lauter gesprochen, und sie mußte es gehört haben. Doch sie blieb steif und unbeweglich, und auf ihrem mageren Hals eines zu schnell gewachsenen jungen Mädchens hatte sich kein Härchen gerührt. Darauf gingen sie drei oder vier Schritte weiter. Vandeuvres schwor, die Gräfin sei eine hochanständige Frau.

      In diesem Augenblick erhoben sich die Stimmen vor dem Kamin. Frau du Joncquoy sagte:

      „Ich habe Ihnen zugestanden, daß Herr von Bismarck vielleicht ein Mann von Geist ist . . . Nur, wenn Sie bis zum Genie gehen . . .“

      Die Damen waren auf ihren ersten Gesprächsgegenstand zurückgekommen.

      „Wie! Schon wieder Herr von Bismarck“, murmelte Fauchery. „Diesmal flüchte ich aber wirklich.“

      „Warten Sie“, sagte Vandeuvres. „Wir brauchen ein endgültiges Nein vom Grafen.“

      Graf Muffat unterhielt sich mit seinem Schwiegervater und einigen ernsten Männern. Vandeuvres führte ihn beiseite und erneuerte die Einladung, indem er in ihn drang und sagte, er seIbst sei bei dem Souper anwesend. Ein Mann könne überall hingehen, niemand würde daran denken, etwas Schlechtes dabei zu sehen, wo doch höchstens Neugier vorhanden sei. Der Graf hörte sich diese Argumente mit gesenkten Augen und stummem Gesicht an. Vandeuvres spürte ein Zögern in ihm, als der Marquis de Chouard mit fragender Miene näher trat. Und als der letztere erfuhr, worum es sich handelte, als Fauchery in seinerseits einlud, blickte er verstohlen auf seinen Schwiegersohn. Es entstand ein Schweigen, eine Verlegenheit; doch die beiden ermutigten sich, zweifellos hätten sie schließlich angenommen, wenn Graf Muffat nicht Herrn Venot bemerkt hätte, der ihn unverwandt ansah. Der kleine Greis lächelte nicht mehr; er hatte ein erdfahles Gesicht, stählerne, klare und stechende Augen.

      „Nein“, antwortete der Graf sofort in so bestimmtem Ton, daß man nicht weiter zu fragen brauchte.

      Darauf lehnte der Marquis mit noch mehr Schärfe ab. Er sprach von Moral. Die oberen Stände müßten ein Beispiel geben.

      Fauchery lächelte und drückte Vandeuvres die Hand. Er wartete nicht auf ihn; er ging sofort weg, denn er mußte bei seiner Zeitung vorbeigehen.

      „Bei Nana um Mitternacht, nicht wahr?“

      La Faloise zog sich ebenfalls zurück. Steiner hatte sich eben vor der Gräfin verneigt. Andere Männer folgten ihnen. Und dieselben Worte liefen um, jeder wiederholte, während er seinen Mantel im Vorzimmer nahm: „Um Mitternacht bei Nana.“ Georges, der erst mit seiner Mutter aufzubrechen beabsichtigte, hatte auf der Schwelle Aufstellung genommen, wo er die genaue Adresse angab, dritter Stock, die Tür links. Inzwischen warf Fauchery vor dem Hinausgehen einen letzten Blick um sich. Vandeuvres hatte seinen Platz inmitten der Damen wieder eingenommen und scherzte mit Léonide de Chezelles. Graf Muffat und der Marquis de Chouard mischten sich in die Unterhaltung, während die gute Frau Hugon mit offenen Augen einschlief. Hinter den Röcken verloren, hatte Herr Venot, der wieder ganz klein geworden war, sein Lächeln wiedergefunden. Es schlug langsam Mitternacht in dem geräumigen, feierlichen Raum.

      „Wie! Wie!“ fing Frau du Joncquoy wieder an. „Sie nehmen an, Herr von Bismarck wird Krieg gegen uns führen und uns schlagen . . . Oh, das übersteigt ja alles!“

      In der Tat, rings um Frau Chantereau wurde gelacht, die diese Äußerung soeben wiederholt hatte, die sie im Elsaß gehört hatte, wo ihr Mann eine Fabrik besaß.

      „Zum Glück ist der Kaiser da“, sagte Graf Muffat mit seinem offiziellen Ernst.

      Das war das letzte Wort, das Fauchery hören konnte. Er schloß die Tür wieder, nachdem er noch einmal Gräfin Sabine betrachtet hatte. Sie plauderte bedächtig mit dem Bürovorsteher und schien an der Unterhaltung dieses dicken Mannes regen Anteil zu nehmen. Bestimmt mußte er sich getäuscht haben, es war gar kein Sprung vorhanden. Das war schade.

      „Na, kommst du nicht herunter?“ rief ihm La Faloise aus dem Vestibül zu.

      Und als man sich auf dem Bürgersteig trennte, wiederholte man noch einmal:

      „Auf morgen bei Nana.“

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