Justizmord?. Artur Hermann Landsberger
zu und verschwand damit — ohne zu bemerken, daß der Amerikaner ihn durch einen Wandspiegel beobachtete, stutzte, Miene machte, auf ihn zuzustürzen — dann aber überlegte, lächelte und ihn gewähren ließ.
Dorothée und Harvey wechselten noch ein paar Worte miteinander. Dann sagten sie sich gute Nacht.
„Bis morgen früh um neun zum Frühstück in meinem Salon“, sagte Mister Harvey und drückte Frau Dorothée die Hand.
Und als er draußen war, verschloß sie ihrer Gewohnheit gemäß die Tür.
8.
Als Mister Harvey das Zimmer des Ehepaars Marot verließ, hatte Andrée das Licht in der Koje bereits gelöscht.
„Rücksichtslos wie immer“, dachte Dorothée sprach es aber nicht aus, sondern entkleidete sich weiter und suchte unter den Stößen von Sachen, die wahllos herumlagen, Wäsche, die sie für die Nacht gebrauchte.
Plötzlich fiel in der Koje etwas um. Gleich darauf erklang Marots Stimme:
„O je!“
„Was ist denn nun schon wieder?“ fragte Dorothée.
„Ich habe dein Parfüm umgegossen.“
„Du bist von einer Ungeschicklichkeit.“
„Wer hat es denn auf den Nachttisch gestellt?“
„Die Zofe jedenfalls nicht.“
„Ich werde dir morgen eine neue Flasche kaufen.“
„Das kostet dich mehr, als wenn du die Zofe mitgenommen hättest.“
„Das ganze Zimmer riecht jetzt nach dem Zeug.“
„Vielleicht wirst du davon munter.“
„Mach’ das Fenster auf!“
„Wir wohnen im Zwischenstock.“
„Es wird uns niemand heraustragen.“
Dorothée öffnete die Balkontür. Nur eine Hand breit. Im selben Augenblick hörte man gedämpfte Klänge einer Jazzkapelle.
„Unten tanzen sie noch“, sagte Dorothée und schob die Türen breit auf. — Die Musik drang jetzt laut ins Zimmer. „Wenn du fesch wärst, würdest du mit mir einen Charleston tanzen.“
„Ich schlafe! Mach das Licht aus!“
Dorothée gehorchte. Aber der Schein einer großen Lampe vor dem Kasino fiel ins Zimmer, das halbdunkel in gespensterhafter Beleuchtung lag.
Die Jazzkapelle tobte — und Frau Dorothée, von der man nur den Schatten an den Wänden und an der Decke sah, warf ihren Kimono ab und tanzte leidenschaftlich. Bis zur Erschöpfung. Dann verschwand auch sie in der Koje.
Im Tanzsaal unten hatte man die Fenster geschlossen. Gedämpfte Klänge eines Tangos, begleitet von melancholischem Gesang, drangen ins Zimmer.
Zwei bis drei Minuten lang.
Da krachte in der Koje ein Schuß. Aus der Portiere trat hastig ein Mann — eilte zum Balkon — schwang sich über die Brüstung — verschwand.
In der Koje schrie Dorothée laut auf — stürzte aus dem Bett — ins Zimmer — zur Tür — und rief laut um Hilfe.
9.
Erregte Menschen stürzten auf die Hilferufe Dorothées hin in das Zimmer. Hotelpersonal und Gäste, die auf der gleichen Etage wie Marots wohnten —, ohne daß man sie in der Dunkelheit voneinander unterscheiden konnte.
„Licht an!“ rief plötzlich eine Stimme. Im selben Augenblick lag das Zimmer hell. An der Portiere stand zitternd Dorothée und starrte zur Koje. Da sie in den Knien wankte und hinzustürzen drohte, eilten der Kellner und das Stubenmädchen auf sie zu und stützten sie. In der Mitte des Zimmers stand der Direktor, der, ohne zu wissen, was geschehen war, zur Tür sah und dachte: „Nur kein Skandal!“ — Vor der Tür drängten sich die Hotelgäste — in Nachtanzügen und großen Abendtoiletten.
„Platz für die Behörde!“ rief Frau Turel und stürzte ins Zimmer.
„Frau Turel!“ sagte der Direktor — aber sie eilte an ihm vorbei, warf einen Blick auf Dorothée, die zur Koje wies und hauchte:
„Mein Mann!“
Frau Turel riß die Portiere zurück, eilte in die Koje und machte Licht. Man sah Dorothées zerwühltes Bett. Man sah Frau Turel, die sich über das von der Portiere verdeckte Bett Marots beugte. Man hörte, wie sie halblaut, aber mit fester Stimme sagte:
„Herzschuß!“
Die Gäste an der Tür fuhren zusammen und gaben einen Laut von sich, als hätten sie ein Herz und eine Stimme. Dorothée verlor das Bewußtsein und hing in den Armen des Stubenmädchens, das selbst in den Knien zitterte und sich nur mühsam aufrecht hielt.
„Einen Arzt!“ rief der Direktor dem Kellner zu und glaubte damit die Hotelgäste zu beruhigen. Aber Frau Turel erklärte:
„Der kann nicht mehr helfen. Rufen Sie die Polizei!“
„Die wird ihn auch nicht wieder lebendig machen“, sagte der Kellner und verließ das Zimmer.
Der Direktor war in die Koje getreten und flüsterte Frau Turel zu:
„Ich möchte auch bitten — wenn irgend möglich ohne Aufsehen.“
„Rühren Sie nichts an“, rief Frau Turel, da der Direktor sich bückte, einen Revolver aufhob und ihn ihr mit den Worten:
„Die Mordwaffe!“ überreichte.
„Wie ungeschickt! Jetzt haben Sie die Spur verwischt!“
Inzwischen war bei Frau Dorothée das Bewußtsein zurückgekehrt. Sie riß sich von dem Mädchen, das sie noch immer hielt, los und machte den Versuch, sich auf das Bett des Toten zu stürzen. — Frau Turel hielt sie zurück.
„Andrée!“ rief Dorothée pathetisch und suchte Frau Turel zur Seite zu schieben. Es gelang ihr nicht.
„Ihnen liegt doch daran, daß man den Täter stellt“, sagte Frau Turel. Dorothée erwiderte schluchzend:
„Mir liegt nur an Andrée — an nichts anderem.“
Frau Turel führte Dorothée zu einem Sessel, auf den sie niedersank, und suchte sie zu beruhigen:
„Ich verstehe Sie, gnädige Frau. Aber Sie müssen sich jetzt zusammennehmen. Die ersten Minuten sind die wichtigsten. Was jetzt versäumt wird, ist nicht wieder einzuholen.“
„Ich will zu ihm“, bettelte Dorothée.
„Nicht jetzt — später“, erwiderte Frau Turel — und der Direktor erbot sich, für Dorothée, für die sich die Gäste weit mehr interessierten als für den Toten, ein anderes Zimmer anzuweisen.
Frau Turel widersprach:
„Sie sind die einzige Zeugin, gnädige Frau. Fühlen Sie sich imstande, zu erzählen, wie sich der Vorgang abgespielt hat?“
„Ich ... ich ... kann nicht!“
„Sie schliefen?“
„Mein Mann hatte das Licht gelöscht — oder ich — das weiß ich nicht mehr — jedenfalls, es war dunkel — unten spielte die Kapelle — ich tanzte — bis ich todmüde ins Bett sank.“
„Weiter!“ drängte Frau Turel.
„Ich schlief — plötzlich — es können nur wenige Minuten gewesen sein —“
„Was war plötzlich?“
„Ein Schuß! — Ich fahre auf — und sehe am Bett meines Mannes“ — Dorothée sank in den Sessel zurück und schloß die Augen.
„Stand das Fenster offen?“
„Nein!