Schluss mit dem Ausverkauf. Josef Kraus

Schluss mit dem Ausverkauf - Josef Kraus


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Vertrauen, dass die Krise zu bewältigen ist.

      Man muss den apokalyptischen Blick nicht teilen, um ein fundamentales Ungenügen zu verspüren, eine Unruhe, die kein Räsonnement stillstellt. Europa steckt sogar laut EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso in einer tiefen »Wirtschafts-, Finanz- und Sozialkrise«. Die Europäische Union stehe vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte. Und gerade nun kollabiert das Vertrauen in die Europa tragenden Institutionen, weitet sich das legitimatorische Defizit zum Misstrauensvotum gegen Politik überhaupt: Man will es lieber nicht so genau wissen, weil den Politikern nicht über den Weg zu trauen sei. Man vernimmt die Nachrichten aus dem Jammertal und lebt unbehelligt weiter, als wäre nichts geschehen, in der Welt von gestern. Sehr lange wird sich dieser Schein von Normalität nicht aufrechterhalten lassen. Die Einschläge kommen näher, sagt Alexander Kluge, wie damals im Luftschutzkeller.

      Bestechend klar hat Hans Magnus Enzensberger vor diesem Hintergrund die »Entmündigung Europas« beschrieben. Sein Essay über das »sanfte Monster Brüssel« gipfelt in der These, die Europäische Union strebe die »Umerziehung von fünfhundert Millionen Menschen« an. Wie stets sei »für jede machtbewusste Exekutive (…) die Passivität der Bürger ein paradiesischer Zustand.« Wenig spreche »bisher dafür, dass die Europäer dazu neigen, sich gegen ihre politische Entmündigung zur Wehr zu setzen«. Dann aber könnte der »Eintritt in ein postdemokratisches Zeitalter« tatsächlich bevorstehen, der ein Rückfall wäre in vorkonstitutionelle Zustände.

      Doch warum in die Ferne schweifen, wenn das Schlechte liegt so nah? Nicht nur Brüssel, auch Berlin erscheint derzeit nicht gerade als Hort republikanischer Transparenz. Der erste Mann im Staate, Bundespräsident Christian Wulff, kritisierte Ende Juni 2011 scharf die wachsende »Aushöhlung des Parlamentarismus«. Und er fuhr fort: »Damit schwindet die Grundlage für Vertrauen, fehlt die Transparenz und Teilhabe für Bürger und Parlamentarier.« Die bekannte Politikverdrossenheit unter den Bürgern verschärfe sich um eine zusätzliche Dimension, denn »inzwischen sind Politikerinnen und Politiker häufig verdrossen, verdrossen über ihre eigene Tätigkeit und ihre Rolle, die ihnen noch zukommt, verdrossen über ihren schwindenden Einfluss.« Viel zu häufig werde »in kleinen ›Entscheider‹-Runden vorgegeben (…), was dann von den Parlamenten abgesegnet werden soll.«

      Wulff nannte als Beispiele die Krise des Euro und den Atomausstieg: »Sowohl beim Euro als auch bei Fragen der Energiewende wird das Parlament nicht als Herz der Demokratie gestärkt und empfunden. Dort finden die großen Debatten nicht mit ergebnisoffenem Ausgang statt, sondern es wird unter einigen wenigen etwas vereinbart und durch Kommissionen neben dem Parlament vorentschieden.« In diesem Sinne meldet sich beharrlich und leidenschaftlich auch der Bundestagspräsident zu Wort, Norbert Lammert. Er konstatiert ebenfalls einen zum Teil selbstverschuldeten Machtverlust des Bundestages zugunsten der Regierung.

      Am anderen Ende der politischen Skala stellt man dieselbe Diagnose. Wolfgang Nešković, ehemals Bundesrichter, heute Justitiar der Bundestagsfraktion »Die Linke«, fordert: »Die legislative Macht muss heimkehren in die Gewalt des Parlaments.« Momentan könne von einer wirklichen Gewaltenteilung nicht gesprochen werden. Der Bundestag sei »ein Parlament, das parlamentarische Rechtssetzung verhindert. Er ist nur noch ein Gebilde, durch das die Regierung muss, wenn sie ihre Gesetze machen will.« Nešković schilt den »Verfassungsungehorsam der Regierung« ebenfalls am Beispiel des Atomausstiegs. Das Moratorium für das Gesetz zur Laufzeitverlängerung bedeute, dass die Regierung ein Gesetz nicht ausführen will, zu dessen Ausführung sie verfassungsrechtlich verpflichtet ist. Medien und Öffentlichkeit haben diesen Beschluss begrüßt, »doch auch gewünschte Willkür bleibt Willkür.«

      Man mag einwenden: Warum sollte eine Partei, die nach innen Offenheit und Transparenz und Partizipation so weit es geht vermeidet, ihre Liebe zu diesen drei Prinzipien ausgerechnet in der Regierungsverantwortung wiederentdecken? Warum sollte die CDU, in der nach Meinung nicht weniger Beobachter »par ordre de Mutti« regiert wird, in der Exekutive davon abweichen? Die pseudodemokratische Simulationsmaschine läuft geschmeidiger denn je. Der hessische CDU-Bundestagsabgeordnete Klaus-Peter Willsch hat deutlich ausgesprochen, welche Formen sie bereits ausgebildet hat: Die regelmäßig stattfindenden Regionalkonferenzen, auf denen Parteiführung und Parteibasis ins Gespräch kommen sollen, dienten ersterer »nur als Propagandainstrument« und seien »für Entscheidungsfindungen völlig ungeeignet«.

      Letztlich, heißt das wohl, steuert die Parteispitze einen Kurs, der weder bei den Wählern noch bei den Mitgliedern Mehrheiten fände. Dass die CDU seit 1990 von damals 790 000 auf heute weniger als 500 000 Mitglieder geschrumpft ist, dass jeden Monat rund eintausend Mitglieder die Partei verlassen, dass die CDU der Ära Merkel bei Wahlen beständig an Zustimmung verliert, könnte auf die Vernachlässigung urdemokratischer Tugenden zurückzuführen sein. Wer mag sich schon engagieren, wenn andere das Sagen haben?

      Oder sind es doch die Inhalte, von denen sich Mitglieder und Wähler mit Grausen abwenden? Da mögen sich Philipp Mißfelders »Junge Union« und Otto Wulffs »Senioren-Union« noch so sehr um den programmatischen, den christlichen und konservativen Kern des Parteiprogramms bemühen: An der Spitze der Partei finden sie damit kein Gehör. Das Manifest »Kultur des Lebens« etwa, das die Senioren-Union im Juli 2011 beschloss, hatte keinerlei Auswirkungen auf das Reden und Handeln des führenden Personals.

      Erstaunt berichtete Eckart Lohse in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Mitte September 2011 über einen Abend mit der Kanzlerin und Parteivorsitzenden: »Angela Merkel hat die CDU ihrem Willen unterworfen, manches laute Stöhnen der Katholiken, der Konservativen, der Ehemaligen kündet davon. Als sie am Donnerstag in der KonradAdenauer-Stiftung, der intellektuellen und wissenschaftlichen Herzkammer der Partei, eine Rede zur Integrationspolitik hielt, die auf jedem Grünen-Parteitag bejubelt worden wäre, durchzuckte es manchen der Zuhörer.«

      Aus vielen Gründen also kamen im Herbst vier Bürger dieses Landes zusammen, um ihrem Herzen Luft zu machen: Eine Personalberaterin, ein Lehrer, ein Publizist und ein ehemaliger General und Minister wollen sich mit den deutschen Scheindebatten und Selbstberuhigungen nicht länger abfinden. Arnulf Baring, Josef Kraus, Mechthild Löhr und Jörg Schönbohm sprachen über das, was unleugbar der Fall ist, und über das, was geschehen müsste, die Not zu wenden. Es entstand, wie zu sehen sein wird, ein munteres, forsches und hoffentlich anstößiges Gespräch, die Grundlage für diesen Band, der ein Anfang sein soll, ein Präludium zu einem gesamtgesellschaftlichen Konzert der Stimmen.

      Gewöhnlich heißt es in der editorischen Notiz zur Druckfassung solcher Gespräche, der mündliche Duktus sei beibehalten worden. Das stimmt auch hier grosso modo. Gleichwohl wurde nach Abschrift und Korrektur an der Klarheit der Gedanken, die immer eine Klarheit des Ausdrucks ist, weitergearbeitet. Der lebendige Charakter der Auseinandersetzung hat dabei hoffentlich keine Einbußen erlitten. Die letzte Fassung ist Anfang Oktober entstanden.

      Der ursprünglich vorgesehene Titel »Es reicht!« war leider ebenso vergeben wie die bekannteren Alternativen »Wehrt euch!« und »Empört euch!«. Dass der nun gewählte Titel eine mindestens doppelte Bedeutung hat, dürfte unmittelbar einleuchten. Schließlich sollten weder unsere materiellen noch unsere immateriellen Werte, sei es panisch oder planvoll, verramscht werden. Auf verramschte Ware folgt zuweilen der Konkurs des Produzenten. Das haben Deutschland und Europa nicht verdient, und auch um die Union wäre es schade. Ein Anfang könnte also gemacht sein.

      Wie jedes Gespräch ist auch dieses unendlich. Es lebt fort, wo ihm widersprochen oder zugestimmt, wo weitergedacht wird. Und natürlich immer dann, wenn das politische Lullaby verstummt, mit dem wir uns beruhigen, das sei doch alles nicht so dramatisch, ach, das sei doch alles nicht mehr ernst zu nehmen. So mild und süß klingt das Wiegenlied nur auf der Titanic.

Alexander Kissler Berlin, im Oktober 2011
I. PAR ORDRE DE MUTTI

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