Semantik für Lehrkräfte. Christian Efing
Lernen einerseits von Vokabeln, andererseits von Grammatik auffasst und kennengelernt hat. Jedoch sind beide Bereiche weniger klar getrennt, als ein eingeengter Fokus rein auf die lexikalische Semantik suggerieren mag; vielmehr gibt es eine deutliche Schnittmenge, einen Bereich, in dem die Grammatik auf vielfältige Art und Weise an der Bedeutungskonstitution mitwirkt.
Als Erstes mag man hier an die Wortbildungssemantik denken. Im Bereich der Komposita-Bildung führt die (grammatische) Kombination zweier oder mehrerer lexikalischer Morpheme zu einer neuen Bedeutung, die zumeist mehr ist als die reine Addition der Teilbedeutungen der einzelnen Konstituenten. Eine Haustür mag leicht als ‚Tür ins Haus‘ identifizierbar sein, aber dieses Beispiel zeigt bereits, dass hinter Komposita verkürzte grammatische Strukturen liegen, die man entschlüsseln können muss, um die kompositionale Bedeutung der neuen Wortbildung, die auf den ersten Blick unterspezifiziert ist, korrekt zu erfassen. So kann man nicht der Wortbildung entnehmen, sondern muss diese Bedeutungsrelation konstruieren, dass ein Kalbsschnitzel zwar ein ‚Schnitzel aus Kalbsfleisch‘ ist, ein Kinderschnitzel aber hingegen ein ‚Schnitzel für Kinder‘. Das Beispiel der Komposita zu Schuhen zeigt, dass weitere Relationen möglich sind: Lederschuh ‚Schuh aus Leder‘, Damenschuh ‚Schuh für Damen‘, Turnschuh ‚Schuh zum Turnen‘. Auch im Bereich der Derivation erschließt sich Bedeutung über grammatisches Wissen um die Bedeutung von Wortbildungsmorphemen: So gilt es im Deutschen etwa zu beachten, dass das Suffix {-er} ein nomen agentis-Suffix sein kann, das eine Person bezeichnet (Drucker ‚Person, die druckt‘), ebenso aber ein nomen instrumentalis-Suffix, das ein Gerät bezeichnet (Drucker ‚Maschine, die druckt‘). Nur mit diesem Wissen um Grammatik können unbekannte bzw. neue Wortbildungen verstanden, aber auch produktiv gebildet werden. Auch bei den Präfixen findet sich diese Art von Wortbildungssemantik, etwa wenn man das Präfix {be-} mit der Bedeutung ‚mit etwas [Nomen] versehen‘ beschreiben kann, zum Beispiel in bebildern, benoten.
Nach Ulrich (2000: 10) ist die sichere Beherrschung von Wortbildungsregeln als rezeptive, produktive wie kreative Wortbildungskompetenz ein zentraler Bestandteil des mentalen Lexikons (vgl. Kap. 3.1) eines Menschen.
Erweitert man die Perspektive von der Wortbildung hin zum Satz, finden sich neben Wortbildungsmorphemen weitere bedeutungshaltige grammatische Formen wie etwa die Kategorien Singular/Plural, Kasus, Tempus (vgl. etwa die analytische Perfektbildung) oder Positiv/Komparativ/Superlativ, die grammatisch/morphosyntaktisch die lexikalische Bedeutung modifizieren. Hierbei ist zu beachten, dass grammatisch transportierte Bedeutung oft alternativ auch lexikalisch auf Wortebene ausgedrückt werden kann. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Tempus: Zukünftiges kann man zum Beispiel lexikalisch, etwa durch Adverbien oder andere Konstruktionen (morgen, demnächst, in den nächsten Sommerferien), als zukünftig darstellen, oder aber grammatisch durch das Tempus Futur. Gleiches gilt für modale Aspekte: Vermutungen können lexikalisch (eventuell, vielleicht) oder grammatisch (durch den Konjunktiv) ausgedrückt werden. Aber nicht alle grammatischen Formen sind (immer) relevant für die Satzbedeutung, da sie oft schlicht aus Gründen der Kongruenz stehen müssen und redundant sind. Die Satzbedeutung beeinflussen sie nur, wenn sie frei wählbar und damit unabängig von der syntaktischen Struktur und den daraus resultierenden Anforderungen sind (Löbner 2003: 16).
Dass man der Grammatik nicht grundsätzlich das Potenzial zuschreiben kann, Bedeutung auszudrücken, lässt sich auch am Genus-System des Deutschen zeigen: Denn das grammatische Genus ergibt sich zum Teil nicht aus dem außersprachlichen Geschlecht (Sexus), sondern aus der morphologischen Struktur des Wortes, wie das viel zitierte Beispiel das Mädchen schnell verdeutlicht, bei dem im grammatischen Neutrum (wegen des Diminutivsuffixes {chen}) auf eine weibliche Person referiert wird. (Das Basislexem Maid ist hingegen natürlich feminin.) Die grammatische Kategorie Femininum bedeutet umgekehrt keineswegs, dass das Referenzobjekt weiblich wäre (die Sonne, die im Französischen übrigens maskulinum ist: le soleil), grammatisches und natürliches/biologisches Geschlecht sind nicht kongruent. Dennoch ist die Genus/Sexus-Kongruenz in indoeuropäischen Sprachen signifikant und es gibt Versuche, die Semantik des deutschen Genussystems als ansatzweise systematisch zu beschreiben, wenn etwa im Bereich der Bezeichnungen für Tiere starke, große Tiere eher maskulinum sind (der Löwe, der Tiger, der Bär), kleine und Nutztiere hingegen femininum (die Gans, die Kuh, die Maus) oder neutrum (das Huhn, das Schwein) (vgl. Köpcke/Zubin 1997).
Grundsätzlich ist Entstehung von Bedeutung auf grammatischer Ebene ein mehrschichtiger Prozess: Die Bedeutung komplexer Ausdrücke ergibt sich nämlich durch semantische Komposition (Kompositionalitätsprinzip), die auf drei Basen beruht: „1. die lexikalische Bedeutung der Grundausdrücke, 2. die grammatische Bedeutung ihrer Form, 3. die syntaktische Struktur des komplexen Ausdrucks“ (Löbner 2003: 18). Grammatischer Aufbau und Bedeutungskomposition erfolgen dabei parallel als Bottom-up-Prozess (Abb. 230a): „Die lexikalischen Bedeutungen der Grundausdrücke dienen als Input für die Regeln der grammatischen Bedeutung, zum Beispiel Interpretation des Plurals, des Komparativs oder des Perfekts; deren Output ist wiederum Input für die semantischen Kompositionsregeln“ (ebd.: 18f.).
Grammatischer Aufbau und Bedeutungskomposition erfolgen parallel (Löbner 2003: 19)
Das Gegenteil wäre ein Top-down-Prozess, wenn ein Rezipient die Bedeutung der Wörter aus der des ganzen Satzes erschließt, was immer dann passiert, wenn man in einem gegebenen Kontext auf ein unbekanntes Wort trifft, dessen Bedeutung aber aus der Satzbedeutung erschließbar ist (ebd.: 19).
Wenn man das oben erwähnte Kompositionalitätsprinzip ernst nimmt, hieße das, dass sich die „Bedeutung eines komplexen Ausdrucks […] eindeutig aus der lexikalischen Bedeutung seiner Komponenten, aus deren grammatischer Bedeutung und aus seiner syntaktischen Struktur“ (ebd.: 20, Herv. CE) ergeben würde. Doch dies wäre eine rein innersprachliche Ausdrucksbedeutung. Durch die Situierung eines Satzes in einem konkreten Kontext entsteht über diese kompositionale Bedeutung aus semantischen und grammatischen Elementen hinaus eine situationsspezifische Äußerungsbedeutung, die sich erst im Rahmen des konkreten außersprachlichen Äußerungskontextes ergibt (ebd.: 20f.) und nur unter Rückgriff auf pragmatische Analysen beschreibbar ist.
Eine adäquate Äußerungsbedeutung kann aber sicherlich nur derjenige oder diejenige erzeugen, der/die zunächst einmal das Kompositionalitätsprinzip verstanden hat und Ausdrucksbedeutungen gezielt produzieren kann. Und hierfür ist eben ein Wissen zentral, das an der Grenze von Semantik als lexikalischer Bedeutung und Semantik als grammatisch produzierter Bedeutung angesiedelt ist. Dies verrät ein einfacher Blick in grammatische Theorien wie etwa die Valenzgrammatik, mit der zeigbar ist, dass die Syntax zu einem Großteil von Wörtern und ihrer Bedeutung abhängt: Das dreiwertige Verb geben zum Beispiel spannt so einen semantischen wie syntaktischen Rahmen auf, der einzuhalten ist, will man einen korrekten Satz artikulieren: Es müssen die drei Leerstellen gefüllt werden, wer (Nominativ) was (Akkusativ) wem (Dativ) gibt.
Siepmann (2007) plädiert in seinem fremdsprachendidaktisch ausgerichteten Beitrag dafür, wegen dieser engen Verzahnung von Grammatik und Wortschatz/Semantik beim Zweit- und Fremdsprachenlehren und -lernen stärker als bislang beide Bereiche integrativ miteinander zu vermitteln, da nicht nur Redensarten und Sprichwörter idiomatisch seien, sondern man „durchgängig in größeren idiomatischen Einheiten, die man als Kollokationen und Kolligationen (britischer Kontextualismus), Phraseme (Phraseologieforschung, Sinn-Text-Theorie Mel’cuks) oder Konstruktionen (Konstruktionsgrammatik) bezeichnen könnte“ (ebd.: 61), spreche und schreibe und Lernerinnen und Lerner demnach vorgeprägte text- und/oder kontextspezifische Muster erwerben müssten, die in unterschiedlicher Gewichtung aus lexikalischen und grammatikalischen Bestandteilen bestehen können“ (ebd.: 62).
Auch beim Erstspracherwerb erwerbe man nicht erst Wörter und dann Grammatik, sondern von Beginn an Wörter in (grammatischen) Konstruktionen („Form-Bedeutungspaaren“, idiomatischen „Ausdrucksschablonen“)