Über Toleranz. Voltaire

Über Toleranz - Voltaire


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      Über Toleranz

      Aus Anlass des Todes von Jean Calas

      Aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Bossier

      Reclam

      2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2020

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961813-5

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014018-5

       www.reclam.de

      Der Beginn des Textes in der Erstausgabe von 1763

      [7]Kapitel I

      Der Tod des Jean Calas. Kurze Darstellung des Falles

      Der Mord an Calas, begangen zu Toulouse mit dem Schwerte der Justiz am 9. März 1762, ist eines der eigentümlichsten Ereignisse, welche die Aufmerksamkeit unseres Zeitalters und auch die der Nachwelt verdienen. Die Scharen von Menschen, die auf den Schlachtfeldern fallen, vergisst man rasch – erstens, weil dies zum Schicksal im Kriege unvermeidlich dazugehört; zweitens, weil jene, die durch die Fügung der Waffen umkamen, ja auch ihren Feinden den Tod hätten bringen können, und sie sind nicht gefallen, ohne sich zu verteidigen. Wo Gefahr und Vorteil sich die Waage halten, endet die Erstauntheit, und sogar das Mitleid schwächt sich ab. Aber wenn ein unschuldiger Familienvater in die Hände des Irrtums, der Leidenschaft oder des Fanatismus gerät, wenn der Angeklagte keinen anderen Verteidiger hat als seine Tugend; wenn die Schiedsrichter über sein Leben, sollten sie ihn niedermachen, nicht mehr riskieren, als dass sie sich eben geirrt haben; wenn sie ungestraft töten dürfen durch ein Urteil, dann erhebt sich der öffentliche Schrei, jeder bangt um sich selbst; man sieht, dass vor einem Tribunal, das errichtet wurde, um über das Leben der Bürger zu wachen, niemand seines Lebens sicher ist, und alle Stimmen vereinen sich zu einem Ruf nach Vergeltung.

      Es ging in dieser seltsamen Affäre um Religion, um Freitod, um Verwandtenmord; es ging um die Frage: haben hier ein Vater und eine Mutter ihren Sohn erwürgt, weil sie [8]Gott gefallen wollten? Hat ein Bruder seinen Bruder erwürgt? Hat ein Freund seinen Freund erwürgt? Müssen sich die Richter etwa vorwerfen, dass sie einen unschuldigen Vater aufs Rad schickten, dafür aber eine schuldige Mutter, einen schuldigen Bruder und einen schuldigen Freund ungestraft davonkommen ließen?

      Jean Calas, damals achtundsechzig, lebte seit über vierzig Jahren als Händler in Toulouse und galt bei allen, die ihn näher kannten, als ein guter Vater. Er war Protestant, auch seine Frau und all seine Kinder hingen dieser Konfession an, außer einem Sohn; dieser hatte der Häresie abgeschworen, der Vater zahlte ihm dennoch eine kleine Unterhaltsrente. Es gab Zeichen genug, wie weit entfernt er war von jenem absurden Fanatismus, der alle gesellschaftlichen Bande zerreißt: so wandte er gegen die Konversion seines Sohnes Louis Calas nichts ein und beschäftigte seit dreißig Jahren eine überzeugte und aktive Katholikin als Dienstmagd, die auch seine Kinder erzog.

      Einer der Söhne des Jean Calas, Marc-Antoine, war ein Mensch, der viel las; er galt allgemein als ein unruhiger, melancholischer und heißsporniger Geist. Der junge Mann konnte im Handel nicht reüssieren, ja er scheiterte gleich zu Beginn, weil er für dieses Gewerbe nicht taugte. Advokat wiederum durfte er nicht werden; dazu hätte es eines Katholizitätszertifikats bedurft, und an das kam er nicht heran. So entschied er sich, seinem Leben ein Ende zu setzen, und ließ diese Absicht gegenüber einem seiner Freunde auch durchblicken. Er bestärkte sich selbst in seinem Entschluss, indem er alles studierte, was je über Selbstmord geschrieben worden war.

      Eines Tages dann, nachdem er sein Geld im Spiel [9]verloren hatte; wählte er diesen Tag für die Ausführung seines Vorhabens. Ein Freund der Familie und auch der seinige mit Namen Lavaisse, ein junger Mann von neunzehn Jahren, bekanntermaßen von aufrichtiger und sanfter Art, Sohn eines berühmten Toulouser Advokaten, war tags zuvor aus Bordeaux gekommen1 und aß an diesem Abend zufällig bei den Calas. Der Vater, die Mutter, Marc-Antoine, ihr ältester, und Pierre, ihr zweiter Sohn, speisten zusammen. Nach Tisch zog man sich in einen kleinen Salon zurück. Marc-Antoine verließ die Runde; schließlich wollte der junge Lavaisse gehen, und nachdem er und Pierre Calas die Treppe hinabgestiegen waren, fanden sie unten neben dem Laden Marc-Antoine im Hemd an einer Tür erhängt; sein Anzug lag gefaltet auf der Theke. Das Hemd war in keiner Weise derangiert, die Haare waren ordentlich gekämmt; an seinem Körper hatte er keine Wunde, keine blauen Flecken.2

      Wir übergehen hier all die Details, welche die Anwälte schon genügend wiedergegeben haben; wir schildern nicht den Schmerz und die Verzweiflung des Vaters und der Mutter; die Nachbarn haben ihre Schreie gehört. Lavaisse und Pierre Calas, ganz außer sich, rannten los, um Ärzte und die Polizei zu holen.

      Während sie so ihre Pflicht erfüllten, während Vater und Mutter aus dem Weinen und Schluchzen nicht herauskamen, versammelte sich das Volk von Toulouse um das Haus. Dieses Volk ist ungezügelt abergläubisch und gereizt; ihre Brüder, die nicht derselben Religion angehören wie sie, sind für jene Leute Ungeheuer. In Toulouse dankte man Gott feierlich für den Tod Heinrichs III.; in Toulouse schwor man, dass der Erste, der vorschlage, den großen, [10]guten König Heinrich IV. anzuerkennen, mit seinem Leben bezahlen werde. Diese Stadt feiert immer noch jedes Jahr mit einer Prozession und Freudenfeuern den Tag, an dem sie vor zweihundert Jahren viertausend häretische Bürger massakrierte. Sechs Verfügungen hat die Stadt gegen dieses abscheuliche Fest erlassen, doch vergeblich: die Toulouser feierten sie einfach weiter wie Blumenspiele.

      Irgendein Fanatiker aus dem Pöbel schrie, Jean Calas selbst habe seinen Sohn Marc-Antoine erhängt. Andere schrien es ihm nach, und binnen eines Augenblicks wurde es einhellige Meinung. Weitere Vorwürfe traten hinzu: morgen habe der Getötete seiner Konfession abschwören wollen; seine Familie und der junge Lavaisse hätten ihn aus Hass gegen die katholische Religion erwürgt; ein Augenblick – und niemand zweifelte mehr; die ganze Stadt war überzeugt, es sei ein Glaubensprinzip bei den Protestanten, dass Eltern einen Sohn umbringen müssten, sobald dieser die Absicht äußere zu konvertieren.

      Sind die Gemüter erst einmal in Wallung, gibt es für sie kein Halten. Man phantasierte sich zurecht: Am Vortag hätten sich die Protestanten des Languedoc versammelt und mehrheitlich einen Henker ihrer Sekte bestimmt; die Wahl sei auf Lavaisse gefallen; der junge Mann habe binnen vierundzwanzig Stunden von seiner Wahl erfahren und sei aus Bordeaux nach Toulouse gekommen, und dort sollte er nun Jean Calas, seiner Frau und beider Sohn Pierre helfen, einen Freund, einen Sohn und einen Bruder zu erwürgen.

      Einen Herrn David, Ratsherr von Toulouse, erregten diese Gerüchte; er wollte sich durch promptes Handeln profilieren, agierte dabei aber gegen Regel und Recht. Die [11]Familie Calas, die katholische Dienerin und Lavaisse wurden in Ketten gelegt.

      Man veröffentlichte ein Monitorium, das ebenso unkorrekt war wie Davids Verfahren. Man ging noch weiter. Marc-Antoine Calas war als Calvinist gestorben, und wäre man davon ausgegangen, dass er wirklich Hand an sich gelegt hatte, so hätte er über den Erdboden aus der Stadt hinausgeschleift und draußen verscharrt werden müssen. Stattdessen setzte man ihn mit dem größten Pomp in der Kirche Saint-Etienne bei; vergebens protestierte der Pfarrer gegen diese Profanierung.

      Es gibt im Languedoc vier Kongregationen religiöser Bußbrüder, auch Pönitenten genannt: die weiße, die blaue, die graue und die schwarze. Die Konfratres tragen eine lange Kapuzenkutte, dazu eine Stoffmaske mit zwei Löchern für die Augen darin. Sie haben einmal den Herzog Fitz-James, den Truppenkommandeur des Languedoc, ersucht, ihnen beizutreten, was dieser jedoch ablehnte. Die weißen Pönitenten veranstalteten für Marc-Antoine Calas eine weihevolle Messe wie für einen Märtyrer. Nie hat je eine Kirche einen wirklichen Märtyrer mit mehr Pomp gefeiert, aber dieser Pomp war grässlich. Auf einen prächtigen Katafalk hatte man ein Skelett postiert, das man Bewegungen machen ließ und das Marc-Antoine Calas darstellte.


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