Über Toleranz. Voltaire
unterzeichnet hätte. Tatsächlich aber schrieb diese Feder das Todesurteil für seinen Vater.
Nun fehlte dem Unglücklichen, der Hand an sich gelegt hatte, nur noch die Kanonisation. Das ganze Volk betrachtete ihn als einen Heiligen; einige riefen ihn an; andere [12]beteten an seinem Grab; andere baten ihn um Wunder; andere erzählten jene, die er schon vollbracht hatte. Ein Mönch zog ihm ein paar Zähne, um dauerhafte Reliquien zu besitzen. Eine fromme Frau, die an leichter Taubheit litt, sagte, sie habe wieder klar und deutlich die Glocken läuten gehört. Ein apoplektischer Priester fand sich geheilt, nachdem er ein Brechmittel eingenommen hatte. Man begann, die Wunder zu protokollieren. Der Schreiber dieser Zeilen besitzt eine schriftliche Aussage über folgenden Vorgang: Ein junger Toulouser betete mehrere Nächte hindurch am Grab des neuen Heiligen und bat um ein Wunder, das aber ausblieb; daraufhin wurde der Mann verrückt.
Einige Mitglieder des Magistrats gehörten der weißen Bußbrüderschaft an. Damit stand der Tod des Jean Calas so gut wie fest.
Was sein gewaltsames Ende besonders beförderte, war die zeitliche Nähe jenes seltsamen Festes, das die Toulouser jedes Jahr begehen und mit dem sie feiern, dass in ihrer Stadt einmal viertausend Hugenotten massakriert wurden. Im Jahre 1762 zelebrierte man nun das zweihundertste Jubiläum dieses Ereignisses. Die Vorbereitungen dieser Feierlichkeit liefen bereits; sie fachten die schon erhitzte Phantasie des Volkes noch mehr an. Man sagte öffentlich, das Schafott, auf dem die Calas’ gerädert werden sollten, sei die größte Zierde des Festes; man sagte, die Vorsehung selbst habe diese Delinquenten beschert, damit sie unserer heiligen Religion geopfert werden könnten. Zwanzig Personen haben diese Reden gehört, und noch ärgere. Und das in unseren Tagen! Und das zu einer Zeit, da die Philosophie solche Fortschritte gemacht hat! Und das, wo doch hundert Akademien schreiben, um für sanftere [13]Sitten zu werben! Es scheint, als würde der Fanatismus, außer sich über die Erfolge der Vernunft in letzter Zeit, nun mit noch mehr Wut gegen sie anrennen.
Dreizehn Richter versammelten sich täglich, um den Prozess zu einem Ende zu bringen. Man hatte keinen Beweis gegen die Familie; man konnte keinen haben; aber die untreulich gebrauchte Religion ersetzte den Beweis. Sechs Richter beharrten lange Zeit darauf, man solle Jean Calas, seinen Sohn und Lavaisse zum Rädern verurteilen und Jean Calas’ Frau zum Scheiterhaufen. Die sieben anderen waren moderater und verlangten wenigstens, dass man eine Untersuchung führe. Die Debatten wiederholten ständig dieselben Argumente und dauerten. Einer der Richter, überzeugt von der Unschuld der Angeklagten und von der Unmöglichkeit des Verbrechens, sprach energisch zu ihren Gunsten; er stellte dem Eifer der Härte den Eifer der Menschlichkeit entgegen. Er wurde der öffentliche Anwalt der Calas’ in allen Häusern von Toulouse, wo das unaufhörliche Geschrei der missbrauchten Religion das Blut dieser Unglücklichen forderte. Ein anderer Richter, dessen Heftigkeit notorisch war, redete in der Stadt mit genauso viel Zorn gegen die Calas’, wie der Ebengenannte Beflissenheit zeigte, sie zu verteidigen. Die Erregung wurde so groß, dass beiden nichts blieb, als sich gegenseitig als Rechtsprecher abzulehnen und aus der Runde auszuscheiden; sie zogen sich aufs Land zurück.
Aber durch ein seltsames Unglück war der den Calas’ wohlgesonnene Richter so anständig, sich an seinen Stimmverzicht zu halten; der andere jedoch kam zurück und gab sein Votum ab gegen jene, über die er eigentlich gar nicht richten durfte. Genau dieses gab den Ausschlag zur [14]Verurteilung zum Rad, denn das Stimmenverhältnis betrug jetzt acht zu fünf – einer der sechs Richter der Gegenseite war nach vielen Streitereien zur entschiedenen Härtepartei übergegangen.
Man möchte meinen, dass, wenn es um Verwandtenmord geht und darum, ob man einen Familienvater der abscheulichsten Exekutionsart ausliefern will, das Urteil einstimmig zu sein habe, weil die Beweise für solch ein unerhörtes Verbrechen3 eine jedermann einsichtige Evidenz besitzen sollten. Der geringste Zweifel muss in einem solchen Fall genügen, um einem Richter, der ein Todesurteil zu unterzeichnen sich anschickt, die Hand zittern zu lassen. Die Schwäche unserer Vernunft und die Unzulänglichkeit unserer Gesetze zeigen sich täglich, aber wann offenbart sich einem dieses Elend deutlicher als dann, wenn der Vorsprung von einer Stimme einen Menschen zum Schafott verdammt? In Athen brauchte es fünfzig Stimmen über die Hälfte, ehe man ein Todesurteil zu fällen wagte. Was lehrt uns dies? Etwas, das wir wissen, ohne daraus zu lernen: dass die Griechen weiser und menschlicher waren als wir.
Jean Calas, ein alter Mann von achtundsechzig Jahren, der seit Langem unter geschwollenen und schwachen Beinen litt, konnte eindeutig keinesfalls einen außergewöhnlich kräftigen Sohn von achtundzwanzig Jahren erwürgt und aufgehängt haben, jedenfalls nicht allein; bei dieser Hinrichtung hätten ihm unbedingt seine Frau, sein Sohn Pierre Calas, Lavaisse und die Dienerin helfen müssen. Die Genannten hatten einander an dem Abend, da der fatale Vorfall passierte, nicht einen Augenblick verlassen. Aber die zweite Vermutung war ebenso absurd wie die erste: [15]Wie hätte eine leidenschaftlich katholische Dienerin hinnehmen können, dass Hugenotten einen jungen Mann, den sie erzogen hatte, ermordeten, um ihn dafür zu bestrafen, dass er die Religion ebenjener Dienerin liebte? Wie lässt sich denken, Lavaisse sei eigens aus Bordeaux gekommen, um seinen Freund zu erwürgen, von dessen behaupteter Konversionsabsicht er gar nichts wusste? Wie hätte eine zärtliche Mutter Hand an ihren Sohn legen können? Wie wären sie alle gemeinsam imstande gewesen, einen jungen Mann zu erdrosseln, der so stark war wie sie alle zusammen, ohne einen langen und heftigen Kampf, ohne furchtbares Geschrei, das die ganze Nachbarschaft alarmiert hätte, ohne wiederholte Schläge, ohne Blessuren, ohne Risse in der Kleidung?
Es war evident, dass, wenn man davon ausging, der Mord sei möglich gewesen, alle Angeklagten gleichermaßen schuldig gesprochen werden mussten, denn sie waren die ganze Zeit zusammen. Es war evident, dass sie die Tat nicht begangen haben konnten. Es war evident, dass der Vater allein sie auch nicht hätte vollbringen können. Und doch verurteilte man allein diesen Vater aufs Rad.
Der Hintergrund dieses Urteils ließ einen ebenso fassungslos zurück wie alles Übrige. Die Richter, die unbedingt die Hinrichtung des Jean Calas wollten, überredeten die anderen mit dem Argument, der schwache Greis werde den Martern während der Exekution nicht standhalten und bestimmt unter den Schlägen der Henker sein und seiner Komplizen Verbrechen gestehen. Sie waren bestürzt, als ebenjener Greis, während er auf dem Rad starb, Gott als Zeugen seiner Unschuld anrief und ihn beschwor, seinen Richtern zu vergeben.
[16]Sie sahen sich gezwungen, ein zweites Urteil zu fällen, das dem ersten widersprach: Die Mutter, der Sohn Pierre, der junge Lavaisse und die Dienerin seien freizulassen. Aber einer der Räte machte ihnen klar, dass dieses Urteil das erste negierte und sie so über sich selbst den Stab brächen: Da alle Angeklagten zur vermuteten Tatzeit ununterbrochen beisammen gewesen seien, bewiese die Freilassung aller Überlebenden zwingend die Unschuld des hingerichteten Familienvaters. Also entschied man, den Sohn Pierre Calas des Landes zu verweisen. Diese Verbannung musste jedoch ebenso inkonsequent, ebenso absurd wirken wie alles Bisherige: Entweder war Pierre Calas an dem Verwandtenmord beteiligt oder nicht. War er es, verdiente er den Tod auf dem Rad wie sein Vater; war er es nicht, verdiente er keine Verbannung. Aber die Richter, betroffen vom leidensvollen Ende des Vaters und von der rührenden Frömmigkeit, mit der er gestorben war, vermeinten, sie retteten ihre Ehre, indem sie glauben machten, dass sie dem Sohn Gnade erwiesen. Als ob dieser Gnadenerweis nicht eine neuerliche Amtsverletzung gewesen wäre. Und sie glaubten, die Verbannung dieses jungen Mannes, der arm und hilflos dastand, habe keine schlimmen Folgen und sei keine große Ungerechtigkeit nach der, die sie leider begangen hatten.
Man begann, Pierre Calas in seinem Kerker zu drohen, man werde ihn wie seinen Vater behandeln, wenn er nicht seiner Religion abschwöre. Dies hat der junge Mann schriftlich und mit Eid bezeugt.4
Als Pierre Calas die Stadt verlassen wollte, begegnete er einem Abbé, der auf Bekehrungen spezialisiert war und ihn zurück nach Toulouse führte. Dort sperrte man ihn in ein [17]Dominikanerkloster, wo man ihn zwang, alle Regeln der Katholizität zu erfüllen. Auf diese Wendung hatte man teilweise bewusst hingearbeitet. Es war der Preis für das Blut seines Vaters, und die Religion, die man geglaubt hatte, rächen zu müssen, schien befriedigt.
Der Mutter nahm man ihre Töchter fort; sie wurden in ein Kloster gesteckt. Diese Frau, fast bespritzt vom Blut ihres Gatten, die ihren toten Ältesten in den Armen gehalten hatte, den anderen verbannt wusste, ihrer Töchter beraubt und