Der Eine und der Andere. Walther von Hollander
Vor allem, junger Mann, sehen lernen! Natürlich läuft er wie alle Deutschen mit dem Kopf voran. Wenn der Körper so ungelenk bleibt, entläuft der Kopf, denn der Hals ...
Hier ergriff Prantikoff mit Energie ihren kleinen Koffer und zog sie daran ein Stück weiter. Tatjana steckte lachend das Lorgnon weg. Sie hatte genug gesehen. Vor dem Bahnhof bestieg sie den hellblauen Mercedes-Wagen Prantikoffs, roch liebenswürdig an den Nelken, die in zu grossen Sträussen knallrot an beiden Fenstern angebracht waren, lächelte Prantikoff zu, winkte mit gelben Handschuhen und liess sich mit ihrer Zofe ins Esplanade fahren, während Prantikoff leise mit der rechten Backe zuckend in seine Dahlemer Villa abfuhr.
Das Ehepaar v. Kranebitter ging dicht hinter Tatjana durch die Sperre. Egbert sah sogar den Lederhut leuchten, aber er wusste nicht, wem er gehörte. Dann kam auch schon die Begrüssung mit Mutter und Tante, die freundlich über das Geländer winkten und den kaum acht Tage Weggewesenen wie aus schwerer Gefahr errettet bewillkommneten. Frau v. Kranebitter nützte die Gelegenheit, Freudentränen zu vergiessen, weidlich aus. Tante Lisa verbarg ihre Rührung hinter heftigem Schulterklopfen und murrenden Redensarten. Es war auch noch ein Bureaubote da, der zwar die Besorgung des Koffers übernahm, aber Herrn v. Kranebitter sofort auf die Direktion bestellte.
Egbert war eigentlich müde und eher ein wenig festlich gestimmt. Schliesslich machte ihn aber die Wichtigkeit seiner Mission ganz stolz, und so fuhr er wie ein richtig wichtiger Mann – das Direktionsauto wartete auf ihn – vom Bahnhof in schnellstem Tempo „zu einer Konferenz“.
Es stellte sich natürlich heraus, dass alles Wesentliche in Egberts Telegrammen gestanden hatte und dass die Begleitumstände genau so gut in den nächsten Tagen hätten erörtert werden können, aber es lässt sich naturgemäss kein Direktor gern die Gelegenheit entgehen, „in Gesellschaft einiger Kollegen mit geschärfter Aufmerksamkeit dem Berichte des Beauftragten zu lauschen, der – soeben aus der Schweiz zurück – seine Meinung von den Abschlüssen dahin zusammenfasste, dass ...“
Die Konferenz, an die sich allerlei Privatgespräche anschlossen und deren wichtigstes Ergebnis war, dass Egbert eine Summe als Gratifikation zugesprochen erhielt, die es ihm ermöglichte, die ganze Familie mit Winterschuhen zu versorgen, dauerte fast vier Stunden. Zu Hause fand Egbert die Familie nebst einem engen Freundeskreis mit knurrenden Mägen vor leeren Tellern sitzen. Er war nun wirklich etwas abgespannt, und ihm schien die Luft im Zimmer bedrohlich und erstickend. Einen Augenblick sass er verzweifelt mit Irma Arm in Arm auf dem Diwan in der Kammer. Dann zog er ihr ein zartes und buntes Seidenkleidchen an, das entzückend zu dem Weizenblond ihrer Haare passte und das er eine halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges in Zürich hatte kaufen können. Irma besah sich vorsichtig im Spiegel. Sie freute sich sehr und dankte ganz ergriffen. Des Kleides wegen (rechnete sie im stillen aus) hatte Egbert doch vierundzwanzig Stunden dritter Klasse gesessen, statt, wie ihm bezahlt wurde, zweiter.
Dann aber zog sie das Kleid schnell wieder aus. „Das Hallo da drin ist so anstrengend, wenn man was Neues anhat.“ Egbert nahm sie lachend auf den Arm und trug sie ins Zimmer. Das Hallo, das da losbrach, störte sie nun nicht. Sie fühlte sich sogar sehr zu Hause darin. Als sässe man gemeinsam in einem Bad. Sie fühlte sich in diesem Augenblick ihrem Manne zum ersten Male befreundet.
*
Die Ankunft Tatjana Gawrilowas vollzog sich dieses Mal nicht reibungslos. Im Esplanade hatte man durch eine Kette von Zufällen die gewünschten Zimmer nicht freihalten können. Der Empfangschef schwänzelte betrübt um Frau Gawrilowa herum. Er entschuldigte sich abwechselnd französisch, russisch und deutsch und empfahl angelegentlich die benachbarte Zimmerflucht. Frau Gawrilowa passte das nicht. Sie stand kerzengerade und abweisend, das Gesicht vom engmaschigen Schleier streng verhüllt, in der Halle. Die Zofe, Mademoiselle Printemps, dem Alter nach nur wenig ihrem Namen entwachsen, stand zehn Meter links hinter ihrer Herrin. Abwesend und gegenwärtig zugleich. Sie war – eine Marotte Tatjanas, die, einmal aus bestimmten Gründen ausgedacht, die Regel für die Reise blieb – vom Hut bis zum Schuh genau wie ihre Herrin gekleidet. Figürlich war der Unterschied zwischen beiden Frauen nicht nennenswert. Die Haltung allerdings schloss jede Verwechslung eigentlich aus. Aber wer hat dafür ein Auge? Jedesmal, wenn Tatjana die Feinnervigkeit und das Unterscheidungsvermögen ihrer Freunde durch das Auftreten von Fräulein Printemps auf die Probe stellte, musste sie seufzend die Plumpheit der Männer erkennen.
Jetzt in der Halle wirkte naturgemäss die Verdoppelung einer auffälligen Erscheinung verblüffend. Die Augen aller Gäste waren auf die kleine Gruppe gerichtet. Selbst die Boys – auf Nicht-Neugier-Zeigen dressiert – verlangsamten ihre Schritte und blickten schräg auf die beiden unheimlichen Damen.
Tatjana liess im Bristol und im Adlon anklingeln. Aber es war alles besetzt. Erst als sie ein wenig zornig selbst ans Telephon ging, bekam sie in einem Hotel am Tiergarten die gewünschten Zimmer.
Sie nannte aber dem Empfangsherrn ihre neue Adresse nicht. Prantikoff – so fuhr es ihr im Abgehen durch den Kopf – konnte ruhig seinen Teil vom Ärger abhaben. Im neuen Hotel war sie bald sehr zufrieden mit dem Wechsel. Die Zimmer gingen auf den Tiergarten hinaus. Das eine hatte einen gegen Aussicht abzudeckenden Balkon, auf dem man Sonnenbäder nehmen konnte.
Die Abendsonne schien gerade auf die Fliesen und auf die bescheidenen Blumentöpfe. Unten war das unablässige Schnurren der Autos der Hauptton. Zuweilen hörte man eine Elektrische um die Ecke weinen und ab und zu einen Autobus wie auf Bierfässern vorbeistampfen.
Die Hauptsache für Tatjana waren aber die bunten Bäume, von denen sie sich in Zürich so schwer getrennt hatte und die sie nun ein paar Kopfsprünge weit jenseits der Strasse wiederfand.
Frau Gawrilowa schlug den Schleier hoch und blieb in Hut und Mantel am Balkongitter stehen. Die eine Hand hatte sie in die Hüfte gestemmt. Sie döste etwas vor sich hin. Zuweilen schüttelte sie den Kopf, wie wenn sie eine Fliege verscheuchen müsste. Aber es war nur das zu verscheuchen, was sie die Ankunftsmelancholie nannte. Das war alles so langweilig: das Umherstehen, bis das grosse Gepäck kam, die ersten Telephongespräche mit Bekannten, die Verfügung über den ersten Abend. Ach ja, Bekannte sind dazu da, den Menschen traurig zu machen.
Was würde wohl Herr de Convenent zu klagen haben, welchen Liebhaber Hermine zur Westen betrügen, welchen Grad die Leidenschaft des Barons Okito (den sie Baron Harakiri nannte) angenommen haben? Wieviel Geld würde dieses Mal das Mitleid mit der „mütterlichen Freundin“ Primenko kosten? In welchem Theater trat der jugendliche Komiker Holzer auf, der sie vor zwei Jahren entzückt hatte und wohl auch noch heute entzücken würde, wenn er seine böse Zunge ein wenig seiner tadelfreien Gesinnung hätte unterordnen können? Was machte der Bankier Engel, der von seiner Frau so heftig betrogen wurde, dass er sich notgedrungen als Don Juan fühlen musste? Ob man den Architekten Fanz zu sehen bekam, der, im Augenblick die grosse Mode, ganz Berlin W über seinen Kamm schor? Frau Gawrilowa rieb sich seufzend die Augen. Welche Fülle der Ungesichter!
Sie wandte sich dem Zimmer zu. Die Koffer waren inzwischen angekommen. Das Bad war eingelaufen. Frische Wäsche lag auf dem Diwan, Tatjana begann sich auszuziehen. Sie ging dabei summend im Zimmer auf und ab. Ihre Stimme hatte nun eine herrliche tenorale Färbung. Sie spann die Töne langsam und traurig. Als Refrain kam dann ein herrischer Aufschrei. He ... Hepp ... He ..: Hepp ... laut, peitschend, männlich. Dann wieder die Melodie zwischen wenigen, kaum auseinanderliegenden Tönen hin und her gleitend. Es war eines jener Wolgaschifferlieder, von denen sie unzählige kannte und zuweilen einige sogar in der Öffentlichkeit sang.
Mitten im Lied hielt sie dann inne, um den Professor Mengsdorf anzurufen. Ja, sie sei da. Nun nun, man würde ja sehen. „Heute abend? .... Eine hohe Ehre für Sie, Herr Professor! Freundin sogar versetzen? ... Nein, keine Konsultation nötig. Weder nötig noch möglich. Ich schätze leidenschaftliche Frauenärzte nicht.“
Noch den Hörer in der Hand haltend und lustigen Unsinn schwatzend, probierte sie mit einer Zehe die Wärme des Wassers, stieg dann mit einem Bein hinein, nickte ins Telephon, hängte ohne Abschied ein und liess sich auch nicht durch gleich darauf erschallendes Klingeln stören. Behaglich und mit vielen Dehnungen wälzte sie sich in der angenehmen Wärme.
Nachher liess sie sich von Fräulein Printemps massieren, schickte sie bald fort, weil sie ihren ungeschickten Tag hatte,