Die Novellen um Claudia. Arnold Zweig
Doktor Rohme,« sagte sie strafend. Sie schien ihn ruhig zuhörend anzusehen; in Wirklichkeit aber musterte sie ihn und prüfte: er sah offenbar überanstrengt aus. Er fuhr fort: »Ich wollte mir, da ich endlich am Theater war, an der Kasse nämlich, einen Parkettsitz kaufen, aber es war ausverkauft, nichts mehr da.« Er sollte nicht soviel lesen. Es tat ihm nicht gut, unbedingt nicht, und half zu nichts, denn am Ende stellte sich stets heraus, daß er alles neu machen und aus sich selbst holen mußte.
»Nun also,« lächelte sie. Und seine großen grauen Augen blickten heute zweifellos besonders matt. Er setzte hinzu: »Es gab nur noch Stehplätze und Logen. Das ging beides nicht, das erste mochte ich nicht und das zweite konnte ich nicht, denn ich dachte, es wäre beinahe eine Beleidigung.«
»Sicherlich,« war ihr Einwurf. »Ich hätte es Ihnen nie verziehen.« Sie mahnte sich: gib bitte acht; aber sie mußte ihn weiter ansehen. Kannst du dir vorstellen, daß er nicht mehr da wäre? Sie widersetzte sich: natürlich! … Ehrlich? nein. Sie hörte unterdessen: »So beschloß ich, nach Hause zu gehen.«
»Pfui,« verurteilte sie. Hin und wieder brach schon wieder Licht durch die Fenster ein, man war bereits im Ort. Dann wurde sein Glas undurchsichtig und seine Augen verschwanden. Es war fast unhöflich, so einsilbig dazusitzen und im Innersten abwesend zu sein; freilich weilte auch ihre Unaufmerksamkeit bei ihm … Wenn er davon wüßte! Es war doch sehr gut, daß er gerade berichtete: »Aber nun entdeckte ich, während ich zwei- oder dreimal im Foyer auf und ab ging, daß ich mich schon seit einigen Tagen innerlich darauf gestimmt hatte, diesen Abend im Theater und … mit Ihnen zu verbringen und spürte die Macht des tyrannischen Vorsatzes. Außerdem stieß ich fortwährend an Leute, die hineinwollten, während es keiner Seele einfiel, hinauszugehen. Da ließ ich mich denn tragen und stand vor Ihrer Loge, ehe ich es recht wußte, und während ich ausschließlich dachte, daß ich doch hinauswollte, nach Hause. Wenn ich selbst hätte öffnen müssen, so wäre mir das vermutlich peinlich gewesen, so unmöglich, daß ich vielleicht doch noch auf die Straße gefunden hätte, aber gleich machte mir ein Diener die Tür auf, und Sie empfingen mich leise, denn es hatte natürlich schon begonnen. Aber die Hand gaben Sie mir doch noch, Fräulein Claudia.« Sie hatte den Sinn seiner Worte in einer oberen Schicht ihrer Seele erfaßt und konnte sogar antworten: »Und warum nicht? Sie störten ja niemand. Es ist hübsch, daß man ungeniert ist auf diesen Plätzen – wie sagt der Engländer geschmackvoll? ›stalls‹ sagt er, Ställe. Sie machen Theater und Konzerte möglich und menschensicher. Aber ich glaube, da sind wir. Endlich,« und sie seufzte befriedigt. Im Zimmer konnte man sich bewegen und hatte Resonanz, Deckung und vertrauten abgegrenzten Raum zu rechtem Beisammen und Gespräch … Das Automobil fuhr mit einer knirschenden Kurve durch das Gartengitter und vor das Tor der Villa. Der Diener öffnete, es war noch kühl und der Atem dampfte.
Dr. Rohme ging allein in dem behaglich gestalteten Zimmer umher und dachte nach, gesellschaftsmäßig angekleidet, schwarz, mit breiter schwarzer Kravatte und weißer Hemdbrust. Er kannte hier jedes Möbel und jedes Bild, obwohl er für neuere Bilder nicht gerade maßloße Begeisterung zu haben pflegte. Ein dicker, blauer Teppich sog jeden Laut seiner ruhelosen Füße auf. Er dachte an Claudia und bewegte aufgeregt die Lippen, als spräche er lautlos vor sich hin. Er liebte sie, daran durfte er nicht länger zweifeln. Weilte er bei ihr, so war ihm wohl ums Herz und er dachte dann wenigstens nicht an sie. Freilich mußte er sich oft zusammennehmen, aber außerdem war sie gütig. Erst hatte er alles dem Hause zugerechnet, den schönen Zimmern, in denen man zu dreien, dann zu zweien Tee nahm, später der lieben Herrin, ihrer Mutter, und endlich hatte er entdeckt, daß die Tochter ihn lockte und festhielt, die Tochter. Kannte er seine Pflicht? Fort mußte er, fort auf der Stelle und ohne zu zögern. Denn was sollte daraus werden? Er konnte sie doch nicht heiraten. Er war ein junger Dozent mit winzigen Einnahmen, in Fachkreisen genannt wegen einer polemischen Zerlegung des Begriffes »Willen«, und nichts mehr; und sie, Claudia Eggeling, hatte, wie man sagte, unbändig viel Geld. Ein Mitgiftjäger, wie? Also das war ganz unmöglich … es blieb ihm nichts weiter übrig, als zu gehen, unwiderruflich zu gehen, sofort. Denn wie sollte er ihr, er, ihr, seine Gründe sagen: Sollte er anfangen: »Claudia, ich liebe Sie, aber …« Sieh da, unterbrach er sich verzweifelt, er hatte vorhin wieder einmal nur an sich gedacht, wie immer. Sie hatte augenscheinlich eine gewisse Einwilligung auszusprechen, ehe man sie heiraten konnte. Sein Denken zeigte sich heute stupid und gründlich albern.
Er blieb vor dem Spiegel stehen, um sich wieder einmal zu bestätigen, daß es für ihn, Walter Rohme, lächerlich und hoffnungslos blieb, eine Frau zu suchen. Nicht allein, daß er rot von Haar war, gefärbt wie ein Kupferkessel, und sommersprossig überdies – sein Aussehen war einfach komisch: und er betrachtete mit ohnmächtiger Erbitterung den da hinter dem Glase, den er hemmungslos hätte schlagen können – das gewohnte und vertraute Bild eines breiten Mannes, mit Augenbrauen und Schnurrbart, dick und buschig überhängend, dem Eindrucke eines Piraten nahe; einem Eindruck, den der zweite Blick übrigens zerstörte, weil die Augen sich wunderlich unsicher bewegten, grau hinter den dicken Gläsern der zerbrechlichen Goldbrille, weil sein Mund unterm Barte sich blaß und geradezu zaghaft verzog, seine Stimme hoch klang und dünn, das Kinn allzuzart geformt schien und die Stirn übertrieben nachdenklich. Ja, dieser Gegensatz mußte zum Lachen reizen, wenn man zu guterletzt noch wahrnahm, daß er nur über Bewegungen linkischer und ungewandter Art verfügte, nachdrücklich und nichtssagend in einem, wobei es stets bleiben würde. Und das untersteht sich und ist Ich, stöhnte es in ihm. Nie im Leben war er sich so unerträglich gewesen wie eben jetzt … Claudia hatte zwar jüngst mit Wärme behauptet, daß ihr wenig an eines Mannes Schönheit gelegen sei, Adonis und Absalom seien vermutlich dumm gewesen – aber ganz gleich, er mußte fort. Sie kannte ihn ja kaum, wenn sie auch ziemlich klug war. Wie sollte sie wohl dazu gelangen, ihn so tief zu erraten, wie er von ihr Wissen in sich trug … Nur das Leiden um Menschen macht hellsehend und öffnet die Seelen. Er ging neben ihr unerkannt und für immer unzugänglich. Denn er konnte nicht von sich reden, und wenn er es versuchte, so zwang ihn Scham und Haß zur ungerechten Maske. Sie hatte nicht erraten, wen er vorhin verdammte, als er den Berlichingen zum Typus Mann erhob – wie hätte sie es auch können! Wenn sie ihn nicht erriet, durfte er nicht bei ihr bleiben, und wenn sie ihn sah, war es gleichfalls zu Ende. Hatte sie wohl einen Begriff davon, wie unzuverlässig er manchmal war, und daß bei Dingen des täglichen Lebens oft die letzte Stimme seiner Ratgeber seine Handlungen regelte? Würde sie ihn nicht bald regieren, wie? und würde er vielleicht nicht in allem ihres Willens sein? Ganz gewiß: und dann ergab sich in ihrer Seele mit Notwendigkeit, daß er ihr erst lächerlich wurde und dann verächtlich, widerwärtig, ein Abscheu … Sie nannte ihn Freund, nun gut, sie lasen gewisse philosophische Bücher zusammen, sie hörten und machten hin und wieder gemeinsam Musik, sie spielte ihm vor, sie gingen wie heute ins Schauspielhaus oder in die Oper – damit war nichts bewiesen. Nein, Claudia handelte entschlossen, sie ritt, sie brauchte sich nicht zweimal zu besinnen und dachte zuerst an den Götz. Was sagte sie doch jüngst, als ihre Mutter sich verspätete? »Ich bin pünktlich und verlange Pünktlichkeit. Unzuverlässige Menschen sind mir ein Greuel.« So ist es, unzuverlässige Menschen sind ihr ein Greuel … Das Herz klopfte ihm im Halse, und seine Hände verkrampften sich: er war verurteilt, und bebende Verzweiflung machte ihn zittern.
So folterte er, ehrlich und mannhaft, seine Seele mit der heillosen Psychologie.
»Mama müssen Sie entschuldigen, lieber Doktor, sie hat sich bereits zurückgezogen,« sagte Claudia hinter ihm. Sie hatte in der kurzen Wartezeit jenes hängende braune Hauskleid angelegt, das er sehr liebte, das am Hals und an den Ärmeln graugrün besetzte. Das war die Gestalt, ihm bis in seine Träume hinein vertraut, dieses schlanke, sanfte Wesen mit ruhigen Bewegungen und den klugen schnellen Augen, deren braune Iris die Seidenfarbe des Kleides enthielt und beseelte, während das tiefschwarze Haar gleich den großen Pupillen glänzte. Ihre Nase bog sich kühn und fein zugleich: oh, eine Römerin von Grund auf mit der gleitenden Stimme eines dunkelsingenden Vogels. Ja, diese liebte er – und sie, die er aufzugeben hatte.
»Sie werden mit mir vorlieb nehmen müssen,« fuhr sie fort. Da entschloß er sich trotz alledem zu einem plötzlichen und brüsken Abschied, zu Flucht und Aufschub und brieflicher Erledigung, weil das wohl das leichteste sein würde: »Ich denke, es ist besser, ich gehe jetzt, Fräulein Claudia,« gab er zurück und suchte seine Stimme festzuhalten, damit sie nicht nach Trauer klinge, »es