Hörigkeit des Herzens. Marie Louise Fischer

Hörigkeit des Herzens - Marie Louise Fischer


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weiter.«

      »Aber es hat doch geknallt!«

      »Möglich, daß ich die Bordsteinkante gestreift habe«, erklärte er achselzuckend.

      »Aber das war mehr! Halt an!«

      »Wozu?«

      »Wir müssen nachsehen, was passiert ist!«

      Unbeirrt fuhr er weiter über die Kreuzung an der Amerika-Gedenk-Bibliothek vorbei und die Blücherstraße hinunter. »Wir beide sind doch gesund und munter oder etwa nicht?«

      Sie packte seinen Arm und schüttelte ihn. »Du könntest jemanden angefahren haben!«

      »Laß mich los! Sonst gibt es wirklich noch ein Unglück.«

      Sie löste den Griff. »Bitte, bitte, laß uns nachsehen!«

      »Stell dich nicht so an! Wenn was passiert wäre, hätte ich es gemerkt.«

      »Aber es hat doch gebumst! Fast wäre ich gegen die Scheibe geflogen!«

      »Bist du aber nicht. Jetzt gib Ruhe und reg dich ab. Du hast wirklich Talent, einem jeden Spaß zu verderben. Darauf kannst du dir was einbilden.«

      »Spaß? Wo soll hier der Spaß sein?«

      »Wirst du endlich den Mund halten? Oder muß ich noch deutlicher werden? Ich wünsche in den nächsten zehn Minuten kein Wort mehr von dir zu hören.«

      Sie zuckte zusammen und machte sich so klein wie möglich.

      »Sobald wir da sind, werden wir das Auto unter die Lupe nehmen«, fügte er versöhnlicher hinzu, »und du wirst sehen, daß überhaupt nichts passiert ist, du mit deinen ewigen Hirngespinsten.«

      Sie schwieg, weil es nichts mehr zu sagen gab.

      Der Hinterhof in der Urbanstraße, in dem Fabian zu parken pflegte, war überhaupt nicht beleuchtet. Es war stockdunkel zwischen den hohen Mauern. Hier schien alle Welt bereits zu schlafen. Nur aus den Fenstern einer einzigen Wohnung im Parterre drang zwischen den nicht ganz zugezogenen Vorhängen ein dünner Streifen Licht, zu schwach, um den Hof zu erhellen.

      Fabian fand einen Platz zwischen zwei Lieferwagen. Mülleimer schepperten, als sie ausstiegen; sie hatten ein paar Katzen in die Flucht getrieben.

      Eva hatte die Taschenlampe aus dem Handschuhfach genommen und strahlte damit den rechten vorderen Kotflügel an. Er wies eine kräftige Delle auf; Lack war abgesplittert.

      »Das ist gar nichts«, sagte Fabian, der hinter sie getreten war, »vielleicht ist die schon wer weiß wie lange drin, wir haben sie bloß nicht bemerkt.«

      »Nein«, sagte Eva.

      »Nicht einmal der Scheinwerfer ist kaputt.«

      Sie beleuchtete den linken Kotflügel und fand ihn, wie sie nicht anders erwartet hatte, unbeschädigt. Während Fabian das Auto von beiden Seiten abschloß – es war ein Modell älteren Jahrgangs, noch ohne Zentralverriegelung und andere Schikanen –, ließ sie die Taschenlampe in der Manteltasche verschwinden.

      »Oh, mein Gott!« entfuhr es ihr unwillkürlich.

      »Hör auf zu jammern! Es ist ja nichts geschehen.«

      Sie hatten mit gesenkten Stimmen gesprochen, fast geflüstert, nicht weil sie Angst gehabt hatten, belauscht zu werden, sondern weil sie bedrückt waren von der rabenschwarzen Finsternis ringsum. Über der Eingangstür zum Hinterhaus hatte es einmal eine Notbeleuchtung gegeben. Aber die Birne war seit langem ausgebrannt, und niemand dachte daran, sie zu ersetzen. Eva und Fabian mußten sich ihren Weg ertasten, und wenn sie sich nicht so gut ausgekannt hätten, wäre es ihnen kaum gelungen, ohne Lärm zu machen. Er drückte die Tür auf und knipste die Treppenhausbeleuchtung an. Einen Augenblick standen sie wie geblendet im Licht der nackten Glühbirne.

      Eva zwinkerte mit den Augen.

      »Du siehst käsig aus«, stellte er erbarmungslos fest.

      ›Du auch!‹ hätte sie fast zurückgegeben, brachte es dann aber doch nicht über die Lippen, weil es einfach nicht wahr war. Tatsächlich sah er blendend aus, fand sie, mit seinem scharf umrissenen Mund, der elfenbeinernen Haut und den grauen Augen, die fast schwarz wirkten im Kontrast zu seinem sehr hellen Haar. Weder die unschmeichelhafte Beleuchtung noch die Sorge um das, was geschehen war – wenn er Sorge denn überhaupt empfand –, konnten seinem Äußeren etwas anhaben. Sie hatte das schon oft und mit immer neuer Verwunderung konstatiert. Auch wenn er häßlich zu ihr war, selbst wenn er wütend wurde, verzerrten sich seine Züge nie, wie sich seine Haut auch nie verfärbte. Für sie, die rothaarige junge Frau mit der sehr weißen empfindlichen Haut, der, wie sie wohl wußte, jede Empfindung vom Gesicht abzulesen war, blieb das unfaßbar.

      Er lief mit großen Schritten die Treppen hinauf, immer wieder zwei, drei Stufen überspringend, während sie mit gesenktem Kopf hinter ihm hertrottete, ungeschickt auf ihren dünnen, hohen Absätzen, und sehr unglücklich, den Tränen nahe.

      Das Atelier, das er bewohnte, lag im fünften Stock, gleich unter dem Dachboden, und nahm fast die Hälfte der Etage ein. Ursprünglich hatte es riesig gewirkt und war denkbar unkomfortabel gewesen. Aber dann hatte seine Mutter, bei ihrem ersten Besuch entsetzt über die primitive Behausung ihres Sohnes, darauf bestanden, wenigstens ein Bad und eine Toilette einbauen zu lassen. Dadurch hatte der Raum an Größe verloren, dafür aber an Bequemlichkeit gewonnen. Der elektrische Herd – bei besonderen Besuchen mit einem handgewebten türkischen Tuch bedeckt – stand nach wie vor unverkleidet an der Zimmerwand; gespült mußte im Bad werden.

      Der Raum war minimal möbliert, was ihn immer noch sehr groß erscheinen ließ. Es gab einige Schränke, eine überbreite Couch mit einem Bettkasten, einen Schreibtisch und zwei Sessel, die Fabian auf dem Flohmarkt erstanden hatte, einen modernen niedrigen Glastisch, einige Lampen und eine Fülle von Kissen, auf denen Besucher sich auf dem Boden verteilen konnten.

      Selbstredend nahmen weder Eva noch Fabian die Einzelheiten dieses Ambientes wahr, das sie bis in den letzten Winkel kannten; beide waren sie mit den Gedanken weit fort. Er fühlte sich leicht erschöpft, glücklich über seinen Erfolg, aber schon wieder umschattet vom Aufsteigen einer vagen Depression, die nicht im Zusammenhang stand mit dem möglichen Unfall. Es war das Gefühl der Enttäuschung, die jedem Triumph auf dem Fuße folgt, eine Empfindung der Vergänglichkeit.

      Er warf seinen Trench zu Boden, zog sich hastig aus, strebte ins Bad und zu Bett, erfüllt von dem Wunsch, sich sein schwindendes Hochgefühl wenigstens in ein paar schönen Träumen bis zum nächsten Morgen erhalten zu können.

      Eva hingegen war erfüllt von dem Erschrecken über den Zusammenstoß. Sie hatte die Vision eines blutenden Opfers und wußte, daß sie Hilfe alarmieren mußte. Sie schlüpfte aus ihren Pumps, sammelte hastig Fabians Kleidungsstücke auf und versorgte sie auf Bügel. Hemd, Unterhose und Strümpfe knüllte sie zusammen und stopfte sie in den verschließbaren Wäschekorb, der gleich neben der Tür zum Bad stand.

      Fabian lag mit geschlossenen Augen in der Wanne, deren Wasser vor Hitze dampfte.

      »Ich muß noch mal weg«, verkündete sie so beiläufig wie möglich und war dankbar, daß seine Augen geschlossen blieben; sie war nicht einmal sicher, daß er sie überhaupt verstanden hatte. Aber das war ihr egal.

      Sie hatte einen Blick auf ihr Spiegelbild erhascht, leicht verschwommen durch den aufsteigenden Wasserdampf. Mit den tiefschwarz getuschten Wimpern wirkte es geisterhaft blaß unter dem glatten leuchtend roten Haar.

      Kurz überlegte sie, ob sie sich abschminken und umziehen sollte. Aber das würde nur einen unnötigen Zeitverlust bedeuten. So schlüpfte sie denn in ihre Turnschuhe und huschte aus der Wohnung und die Treppen hinunter.

      Im Parterre klopfte sie kräftig gegen eine Wohnungstür, dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz, ein Geheimzeichen, auf das sie sich Einlaß erhoffte. Hier unten, das wußte jeder im Haus, trafen sich regelmäßig junge und alte Türken aus dem Kiez zum Karten- oder Würfelspiel, bei dem es, wie man sich zuraunte, um beträchtliche Summen ging. Natürlich war dergleichen verboten, wenn Eva auch nicht


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