Jan und die Marokkaner. Carlo Andersen

Jan und die Marokkaner - Carlo Andersen


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einem Weltrekord der schnellen Entwicklung einer Stadt gleichkommt.

      Die Stadt hat einen prächtigen Hafen, der aus mehreren Hafenbecken besteht, welche von einem zweieinhalb Kilometer langen Deich gegen die oft hohen Wellen des Atlantik geschützt werden. Unten am Hafen befindet sich die Altstadt, die fast ausschließlich von den Eingeborenen bewohnt wird. Um diesen Stadtteil ist die neue Stadt in großen Halbkreisen entstanden, die sich landeinwärts ausbreiten. In großen Zügen läßt sich die neue Stadt in einen Stadtteil des Handels, einen der Industrie und einen der Vergnügungen aufteilen. Natürlich gehen diese Stadtteile ineinander über, aber besonders das Vergnügungsviertel ist abends deutlich erkennbar. Aus den großen Tanzlokalen ertönt Jazzmusik, die Kinos zeigen die neuesten amerikanischen Filme, und es werden auch moderne europäische Stücke gespielt. Bunte Neonreklamen und moderne amerikanische Autos beleben das ohnehin schon farbenprächtige Straßenbild. Wenn man auf dem breiten Boulevard de la Gare steht und sich die Palmenallee wegdenkt, die in der Mitte der Straße verläuft, kann man wirklich vergessen, daß man sich mitten in einer afrikanischen Stadt befindet. Im Stadtbild dominiert natürlich die eingeborene Bevölkerung, aber dem Straßenverkehr und den modernen Gebäuden nach zu urteilen, könnte man sich ebensogut in Europa oder Amerika befinden. Selbstverständlich hat Casablanca auch einen modernen Flughafen, verschiedene Eisenbahnlinien strahlen von Casablanca aus, und im Hafen ist immer etwas los.

      Während des Zweiten Weltkrieges – im November 1942 – wurde die Stadt von alliierten Marineeinheiten angegriffen und erobert, und einige Monate später wurde dort die berühmte ‹Casablanca-Konferenz› abgehalten, bei der Winston Churchill, der damalige britische Premierminister, und der amerikanische Präsident Roosevelt wichtige Abmachungen über die Weiterführung des Krieges trafen. Auch Stalin wurde zu diesem Zusammentreffen eingeladen, glänzte jedoch durch Abwesenheit. Es ging auch sehr gut ohne ihn.

      Wenn man aus einem modernen Stadtteil in die Altstadt kommt, befindet man sich sogleich in einer ganz anderen Welt. Im Eingeborenenviertel sind die Straßen eng und ziemlich schmutzig; die Häuser haben kaum je Fenster zur Straße und sehen wie halbverfallene Ruinen aus. Das Leben auf der Straße ist ganz anders als in den modernen Vierteln. Wie man weiß, sind die Araber nicht übermäßig fleißig, aber sie sind recht gute Handwerker, und in den vielen Läden werden Waren ausgestellt, die jeden Touristen anlokken. Besonders die schönen handgewebten Teppiche und die aus Kamelleder gefertigten Artikel sind als Mitbringsel bei den ausländischen Käufern sehr beliebt. Das Handeln mit den Arabern erfordert allerdings eine Engelsgeduld, denn der eingeborene Händler beginnt meist mit einem Preis, der fast doppelt so hoch ist wie der, zu dem er schließlich mehr als gern verkauft.

      Die ‹Flying Star› legte in einem der inneren Hafenbecken an, aber es war doch schon so spät geworden, daß Ingenieur Smith die Hafenbehörden erst am folgenden Morgen aufsuchen konnte. Dies teilte er während des Abendessens in der Kajüte mit und gab den Jungen gleichzeitig ein paar gute Ratschläge für den Aufenthalt in Casablanca.

      «Wie ihr ja schon alle wißt, sind die Verhältnisse in den marokkanischen Städten längst nicht mehr so friedlich wie früher. In den Zeitungen haben wir immer wieder gelesen, wie häufig sich hier Morde und andere blutige Auseinandersetzungen ereignen. Der Haß gegen die Europäer ist erneut gewachsen. Natürlich ist die Gefahr in einsamen Gegenden am größten, aber auch in den Städten sollte man auf der Hut sein. Habt ihr vor, das Eingeborenenviertel zu besuchen?»

      «Ja ... doch ... davon haben wir gesprochen», gab Jan zu.

      Der Ingenieur nickte. «In Ordnung. Ich habe nichts dagegen, aber ich verlange von euch, daß ihr immer zusammen geht und daß ihr Peter Nielsen mitnehmt.»

      «Ist es denn ... ich meine, ist es so gefährlich?» murmelte der kleine Jesper und schielte ängstlich seine Freunde an.

      «Es könnte gefährlich werden, Jesper», sagte Ingenieur Smith. «Ich glaube zwar nicht, daß das Risiko sehr groß ist, aber ihr solltet immer zusammenbleiben.»

      «Besteht denn die Gefahr, daß man erschlagen wird?» wollte Jesper wissen. Dabei schaute er verängstigt auf die Tür, als erwarte er jeden Moment einen wilden Araber mit erhobenem Messer auftauchen zu sehen.

      «Wäre es nicht besser, wenn wir alle hier auf dem Schiff blieben und es uns gemütlich machten?»

      Erling klopfte seinem kleinen Freund freundschaftlich auf die Schulter. «Lieber Krümel, sei ohne Angst! Wenn du dich nur hinter dem breiten Rücken deines Onkels Erling hältst, wird dir schon nichts zustoßen. Die blutdürstigen Araber werden dich dann einfach nicht sehen.»

      «Ja, das mag ja sein. Aber dich können sie unmöglich übersehen», meinte Jesper. «Was habe ich schon davon, hinter deinem Rücken zu stehen, wenn du mit der Nase in die Luft gestreckt und einem Messer im Rücken daliegst?»

      «Dann würdest du flach wie ein Pfannkuchen gedrückt werden, mein Freund ... und dann hast du auch keinen Grund zur Angst mehr.»

      Ingenieur Smith mußte lächeln, aber seine Stimme blieb dennoch ernst. «Na ja, Jungen, es wird schon alles in Ordnung gehen, wenn ihr euch bloß nach meinen Anweisungen richtet. Und solltet ihr vorhaben, im Eingeborenen viertel einzukaufen, dann möchte ich euch noch ein paar Tips geben. Ohne Zweifel könnt ihr eine Menge schöner Dinge dort finden, aber aufpassen müßt ihr! Vieles, was den gutgläubigen Touristen hier aufgeschwatzt wird, ist keineswegs von fleißigen Eingeborenen hergestellt worden, sondern wird schlicht und einfach aus Deutschland und Japan eingeführt.»

      «Das darf nicht wahr sein», ertönte es im Chor.

      Smith nickte lächelnd. «Worauf ihr euch verlassen könnt! Deutschland und Japan exportieren eine Menge Waren nach Marokko, die dann hier als ‹echte Heimarbeit afrikanischer Herkunft› verkauft werden. Wenn die Touristen dann zu ihren Familien zurückkehren und stolz ihre Einkäufe vorzeigen, werden sie natürlich nicht schlecht ausgelacht, wenn das wunderschöne Zeichen ‹Made in Germany› entdeckt wird. Und schließlich noch eins. Zahlt niemals den Preis, den ein arabischer Kaufmann zu Beginn verlangt. Wenn es einen bestimmten Artikel gibt, den ihr unbedingt haben möchtet, dann müßt ihr mit dem Kaufmann so lange handeln, bis er ihn für ein Drittel des ursprünglich verlangten Preises hergibt.»

      «Darauf läßt sich doch ein Araber nie ein», meinte Carl.

      Der Ingenieur lachte. «Aber gewiß, du mußt nur genügend Geduld haben. Vergiß nicht, daß ein Araber richtig enttäuscht ist, wenn du nicht mit ihm handelst. Nach Herzenslust Handeln ist ja sein ganzer Spaß, und er weiß genau, daß er nicht übervorteilt wird. Ja, so sind nun einmal die Handelsbräuche in Casablanca und anderen afrikanischen Städten, man muß es bloß wissen. Wenn ein Fremder das zahlt, was zu Anfang verlangt wird, dann verachten ihn die Araber höchstens ein wenig.»

      «Vielleicht kommt er sich obendrein etwas geprellt vor?» fragte Jan lächelnd.

      «Ja, so kann man es ausdrücken», nickte der Ingenieur. «Und damit habe ich euch ein paar Ratschläge gegeben, die ihr tunlichst befolgen solltet. Vor allem bestehe ich darauf, daß ihr nur gemeinsam ausgeht. Sind wir uns darin einig?»

      «Vollkommen», ertönte es im Chor. «Wir werden schon aufpassen!»

      «Gibt es im Araberviertel nicht französische Polizei?» fragte Jesper etwas bedrückt.

      Der Ingenieur lächelte. «Doch, natürlich, Jesper, aber ab und zu sieht man sie nicht. Und du darfst nicht vergessen, daß sich Europäer auf eigene Gefahr in die Araberviertel begeben. Das wird von den französischen Behörden immer wieder betont. Wenn man erst auf mysteriöse Weise in einem der Eingeborenenviertel verschwunden ist, besteht die Möglichkeit, daß man nie wieder auftaucht. Die Araber halten zusammen ... das mußt du dir merken!»

      «Ja», murmelte Jesper. «Das werde ich mir bestimmt merken, darauf können Sie sich verlassen. Sind die Araber geschickt im Umgang mit Messern?»

      «Erstklassige Spezialisten», nickte Smith.

      Es schüttelte Jesper beim bloßen Gedanken, und er war noch immer bedrückt und schweigsam, als er eine halbe Stunde später mit seinen Freunden zusammen draußen auf Deck saß. Erling bemerkte das und sagte tröstend:


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