Delta des Lebens. Alfred Hein

Delta des Lebens - Alfred Hein


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zum Ziel zu gelangen.

      Nun sagte die Blonde: „Wie heißt der Ort, Herr Doktor?”

      „Sie kennen mich?”

      „Mein Vater ist in der Kasse. Ich kam manchmal hin. Sie sahen sich nie um.”

      „Der Ort heißt Leoben.”

      „So sieht er auch aus, wie schön paßt der Name dafür. Ich habe die Zwiebel-Kirchtürme so gern, sie duften wie Tulpen.”

      „Sie dichten ja, mein Fräulein. Heißen Sie Agathe?”

      „Nein, ich heiße Marie.”

      „Ich dachte, man nennt Sie Agathe.” Ja, „man nennt Sie”, sagte ich, das war wie im Film. Filmten wir nicht? Filmten wir nicht immer ein wenig?

      Die Braune zur Linken war still, aber ihr Ellbogen bebte gegen meine Hüften. Sie hatten beide blaue Augen, die Braune große runde, die Blonde mandelförmige. Ich hatte die Braune nur einmal angesehen, während ich die Blonde, weil wir uns ja bereits unterhielten, immerwährend anblickte; dennoch war es so, daß, wenn ich geradeaus träumte, die Braune mir ganz deutlich erschien und die Blonde verschwamm.

      Zwei Bürgerdamen mit Kapotthut saßen starren Auges hinter der unsichtbaren Lupe des Klatsches. Alles nahm sich in der Vergrößerung furchtbar aus, so sollte es auch sein. Nur sie selbst standen hinter der Lupe und erschienen sich normal und vollkommen in jeder Beziehung: Relativität der Vogelscheuchen.

      Der Kapitän meinte zu der Blonden und zu mir, daß es sich im Kreiswald heute schön spazierengehen ließe. Da sah er unsere Fahrkarten: „Ach, Sie steigen früher aus, Fräulein?” Da wußte ich’s nun. Die Blonde wurde stumm. Wir hatten beide gehofft, es ginge ans selbe Ziel. Ich wäre vielleicht noch einen Tag in der Kreisstadt geblieben, vielleicht auch zwei.

      „Wohin fahren Sie, mein Fräulein?”

      „Zu meiner Tante Tietze. Sie wohnt in Kottonowen.”

      „Ich will verreisen. Ich will ins Gebirge. Ich konnte endlich abkommen. Der Gemeindevorsteher wollte mich nicht fortlassen.” Ich sprach das sehr laut. Wenigstens hier konnte ich den Leuten imponieren. Sobald die Eisenbahn anfängt, war das vorbei, dachte ich. Aber das bekam mir schlecht. Ein Schneidermeister aus einem der Weiler vor dem Ort, in dem ich herrschte, trug seine zwei Zentner auf mich zu und begann mich auszufragen in einem so langen Hin und Her, daß, als ich mich – wir waren ans Geländer getreten – umsah, die Blonde ausgestiegen war. Neben die Braune hatte sich ein Feldwebel gesetzt, der, die beiden prankenartigen Hände auf den gespreizten Oberschenkeln, am Trapez seines Schnauzbartes die Eitelkeit seiner stolzen Blicke stramm turnen ließ. Die Braune sah traurig zu mir herüber. Ich stand allein am Dampferende, betrachtet von den Kapott-Vogelscheuchen. Es war ein seliger Schmerz, diese beiden hübschen Mädchen, die mich liebten, ins Ungewisse zu verlieren.

      Von nun an reiste ich weiter mit dem Gefühl, nicht ganz verlassen in der Welt zu sein. Gott war mir gut. Er ließ mich übermütig werden. Ich spielte mit kleinem Leid. Um mich erhob sich mächtig eine tosende Freude. Was ahnte mein Gemüt? Wieso stand jeder Baum so bedeutsam am Ufer des Sees, warum lag die Stadt in der Ferne wie eine Traumstadt der Märchenbücher? Und warum zitterte so zart das Blut zwischen mir und dem Mädchen? So weltverloren zart? So traurig wie ein Volkslied der Slawen?

      Der D-Zug ratterte, der Schlafwagen schaukelte, ich lag drinnen. Jawohl, Dr. Lutz Lüchting lag drinnen. Er hat sich Geld sparen können in der kleinen Stadt. Nun kann er den großen Mann für eine Woche spielen. Der Herr, mit dem ich fuhr, das war ein Kammergerichtspräsident. In Sandau werde ich, welterfahren zurückgekehrt, erzählen: Unter anderem traf ich zufällig im Schlafwagen meinen alten Bundesbruder, den Kammergerichtspräsidenten von Eidertaun. Dabei erfuhr ich nur das Kräuseln seines schlafwohligen Atmens, auch Schnarchen genannt, wußte nicht einmal, wie er aussah. Als ich in den Schlafwagen einstieg, lag er bereits vorn unten in der Ecke, das Gesicht zur Wand gekehrt. So gedachte ich nun auch zu schlafen für mein teures Geld.

      Aber da begann die große Vision. Ja, die große gottgesandte Vision. Ich befand mich auf einer Sendung. Ich sollte erkennen. Ich sollte ruhig werden. Denn ach, ich durfte ja nur an die Oberfläche meines Wesens rühren; es war ja im Grunde alles so furchtbar leer auf der Welt all die Jahre lang. Diese Leere, diese Nacht, diese Wüste wurde von Feuerwerk durchblitzt, Raketen der faden Genüsse, sofort verpufft, Böller der falschen Lustbarkeiten, deren Krach die Seele zwar erschütterte, aber nur, daß ein Kopfweh blieb.

      Jede Nacht träumte dann die dunkle Seele in das Dunkel, der Gefangene ging ins Gefängnis. Da er zeitlebens verurteilt war, glaubte er, dies sei das Leben. So erging es mir, so ergeht es wohl allen in diesen Zeiten.

      Ja, so blitzen die Raketen auf. Was war das? Industriegebiet. Hochöfen flackerten, die Sterne sah man nicht mehr, glühende Schlacke fließt die Halde herunter, stählerne Hallen, Bogenlampen umleuchten Toben und Tosen, die riesigen Maschinen bekribbeln zwerghafte Wesen, Menschen. Wir haben sie entfesselt. Ist das ewig drehende Förderrad auf den Gruben nicht furchtbares Symbol? Warum halten wir es nicht an, zerstören es nicht? Es rast, wir rasen mit, müssen mitrasen, sonst sagt es nein und läßt uns als langsame Bettler die Straßen entlangkriechen, auf denen wir, wenn wir glücklich losrasten, im Auto dahinrasen könnten.

      Raserei!

      Stille! Stille! Wo ist Stille? Gott sandte mir die Stille. Ich spürte sie eine Sekunde lang mitten in dem D-Zug-durchflitzten Industrieorkus. Sie erschien mir, ein silberzarter großer Engel. Er hatte das Gesicht der Blonden.

      Aber da schrie kreischender Schein von Riesenstahlgerüsten in den vorübersausenden Zug, der Engel legte den Kopf in die Stahlmaschen, ein gewaltiger Kran hob ihn hoch und warf ihn in den Hochofen. Dies habe ich mit eigenen Augen gesehen. Der Zug hielt. Rief der Schaffner Gomorrha?

      Tausend Bogenlampen auf hundert Bahnstrecken, die aus der Stadt hervorpfeilten wie das Netz einer raublüsternen Spinne. Gleich dicken Giftdrüsen saßen die Häuser auf dem Leib der Spinne. Und das Gift, das sie spie, war der Seelenextrakt der modernen Menschen.

      Schon fuhren wir wieder, zischten dahin. Heute morgen noch das langweilige Landstädtchen, nach Mitternacht werde ich in der Weltstadt sein. Ich hatte plötzlich ein Gefühl für die Aufhebung der Entfernungen, ich verpflanzte mein möbliertes Zimmer bei der Rischkowska nach Berlin, es paßte hin, die Rischkowska hatte Berlin nie gesehen, aber seine Geldgier hat sie auch gepackt. Ich werde nun hunderttausende Rischkowskas treffen, und ich werde nicht einmal Zeit haben, bei diesen nach den letzten Fetzchen tiefer Seele zu suchen, wie ich es in Sandau bei meiner Rischkowska tun konnte; ich werde selbst nur alles auf der Tauschgrundlage Geld gegen Geld, Leistung gegen Geld, Essen gegen Geld erledigen können.

      Ich spüre plötzlich das Hohngelächter von Millionen um mich, die einen verrückten Doktor verlachen, weil er anderes mehr schätzt als Geldverdienen. Ja, da stehen sie. Arbeiter und Herren, ein Heer aufmarschiert auf den schlackenglühenden Halden. Horch, das Gelächter! Es klingt wie das grelle Pfeifen von hundert Sirenen. Da ist es ja schon.

      Ich sage: „Tut euch die Seele nicht weh? Wißt ihr das, was ihr als Kind besaßet?”

      Die Millionen: „Wir hatten als Kind denselben Willen wie heut, es war ganz dasselbe, am meisten haben, wovon, ist ja gleich. Damals Spielzeug, heute Geld!”

      Ich: „Vergiftet.”

      Die Millionen (wie Maschinen): „Daß ich nicht lache!”

      Ich: „Könnt ihr, wollt ihr nicht einmal in euch hineinsehen?”

      Die Millionen (wie Maschinen): „Bei mir knorke!”

      Ich: „Eure Sprache ist scheußlicher als der Laut der Tiere!”

      Die Millionen: „Schlagt den Hund tot, den dämlichen Hund!”

      Ich: „Und Gott?”

      Die Millionen: „Laßt ihn, er hat den Fimmel. Wir wollen verdienen, das Leben ist kurz.”

      Ich: „Das Leben ist kurz, und ihr verdient nur.”

      Die Millionen: „Hast du Geld?”


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