Die Oslo-Connection - Thriller. Olav Njølstad

Die Oslo-Connection - Thriller - Olav Njølstad


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Dr. Jegorova hatte jüngst eine Studie über die Bewohner Majaks durchgeführt, eines kleinen Ortes in Nord-Russland, wo seit Mitte der 50er Jahre Plutonium für die sowjetische Kernwaffenindustrie produziert wurde und wo es mehrere größere Strahlenunfälle gegeben hatte. Die beiden Frauen hatten statistische und medizinische Daten ausgetauscht und im vergangenen Jahr in regelmäßigem Kontakt gestanden. Ulla war gespannt, zu welchen Ergebnissen Jegorova gekommen war.

      Aber bis zur Moskaureise waren es noch drei Wochen. Jetzt wollte sie nach Oslo, um in alten Unterlagen zu wühlen – voller Lügen, befürchtete sie – und einige Schlüsselfiguren zu interviewen, solange sie noch lebten. Zeitzeugen, sozusagen. In ihren Albträumen starben sie an Altersschwäche, Langeweile oder Furcht um den eigenen Ruf, bevor Ulla die wichtigen Informationen aus ihnen herausquetschen konnte.

      Das Flugzeug neigte sich zur Seite. Unter ihr zeigte sich die karge Küstenlandschaft in sonnenvergoldeter Pracht. Zwischen den Inseln waren Fischkutter auf dem Weg zu oder von den Fischgründen auf dem offenen Meer. An einigen Stellen mussten sie die großen, kreisförmig angelegten Fischfarmen umfahren, die wie gigantische Handschellen vor den Fjordmündungen lagen.

      Sie wusste, dass das Leben dort unten auf dem Boden längst nicht so idyllisch war, wie die wunderschöne Landschaft es einem vorgaukelte. Dort unten gab es Grenzen und Sperren, die aus der Luft nicht zu sehen waren.

      Allein der Gedanke daran stimmte sie traurig.

      Ihre eigene Kindheit war von einem mentalen Hochspannungszaun zerschnitten gewesen, den niemand sehen konnte, der einen aber umhaute, sobald man ihn berührte. Anfang der siebziger Jahre brach in der kleinen Gemeinde Bakfjordeid in Ost-Finnmark, wo sie aufgewachsen war, ein unversöhnlicher Streit zwischen den so genannten »Freunden«, konservativen Læstadianern, und einer Gruppe Abtrünniger, den »Tabernaklern«, aus. In dem vorrangig religiösen Streit schwangen deutlich politische Untertöne mit: Die Læstadianer unterstützten die Arbeiterbewegung, die Tabernakler die Christliche Volkspartei. Der endgültige Bruch kam mit dem Abtreibungsgesetz und der Emanzipationsbewegung. Die Tabernakler weigerten sich, mit einer Partei zusammenzuarbeiten, die straffreie Abtreibung und Geschlechterquotenregelung in ihrem Programm hatte, weil sie sich damit gegen Gottes Willen auflehnte. Ihr Vater wiederum und mit ihm seine Glaubensgenossen bei den »Freunden« warfen den Tabernaklern vor, von Solidarität mit den Schwachen zu reden, zugleich aber aus Prinzip jede unglückliche Frau zu verdammen, die sich nicht in der Lage sah, ein Kind in die Welt zu setzen.

      Es waren Fragen wie diese, die die vormals zusammengeschweißten Læstadianergemeinden in Nord- und Ost-Finnmark spalteten. In Ullas Familie waren die Grenzpfeiler mitten ins Ehebett der Eltern geschlagen worden; ihre Mutter und ihr Vater standen in dem Streit auf verschiedenen Seiten. Erstaunlicherweise war ihre Mutter die konservative Verteidigerin der existierenden Ordnung. Für sie war Abtreibung eine Todsünde und die Frauenbewegung ein Missverständnis. In ihren Augen bedeutete Freiheit, die Möglichkeiten zu ergreifen und die Pflichten zu erfüllen, die einem in der von Gott gegebenen, sozial-religiösen Hierarchie zugeteilt worden waren.

      In den Jahren vor Ullas Geburt hatten ihre Eltern sich mehr und mehr auseinander gelebt. Der kritische Punkt war erreicht, als ihr Vater 1973 für die Arbeiterpartei kandidierte, die im gleichen Jahr beschlossen hatte, das freie Recht auf Abtreibung in ihr Programm aufzunehmen. Wenige Monate nach der Parlamentswahl war ihre Mutter schwanger geworden, und ihre Eltern hatten einen letzten, tapferen Versuch unternommen, wieder zueinander zu finden. Es musste für beide eine schreckliche Zeit gewesen sein. Denn ihrer großen Liebe zum Trotz, die sie füreinander empfanden, war ihre Beziehung zwischen den stummen Anklagen und misstrauischen Fragen erdrückt worden.

      Das Flugzeug beschrieb einen Bogen nach Osten. Die märchenhafte Schönheit der Küstenlandschaft traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Der Anblick war so harmonisch und friedlich, dass sie sich auf die Unterlippe beißen musste, um sich zu vergewissern, dass es wahr war.

      Und dann wurde ihr klar: Es war nicht wahr. Die Wirklichkeit war eine andere. Die Naturidylle machte es einem schwer, die unversöhnlichen religiösen, sozialen und persönlichen Widersprüche zu erkennen, die das Leben in den vielen kleinen Insel- und Küstenorten prägten, die sie gerade überflog. Aber das bedeutete nicht, dass es sie nicht gab. Es war ein wenig wie beim radioaktiven Fallout nach Atomtests, auf dessen Erforschung sie so viel Zeit und Kraft verwendet hatte. Der war auch nicht mit dem bloßen Auge zu erkennen, weder aus der Luft noch vom Boden aus. Aber für all die, die an Orten lebten, wo die Wind- und Wetterverhältnisse ungünstig gewesen waren, konnte das unsichtbare, geruchs- und geschmacksfreie Gift, das keine Schmerzen verursachte, äußerst tragische Konsequenzen haben.

      Ohne die zerstörerische Kraft der Religion auf die Liebe, dachte sie, hätten ihre Eltern nie aufgehört, einander zu lieben. Und ohne die zerstörerische Kraft der Radioaktivität auf alles organische Leben wäre ihr Vater vielleicht noch am Leben.

      Sie wurde von der Stewardess aus ihren finsteren Gedanken gerissen, die lächelnd fragte, ob sie Tee oder Kaffee haben wolle.

      »Keins von beiden, danke«, antwortete sie. »Ich trinke vor dem Abend nie etwas Warmes. Aber wäre es möglich, dass Sie mir vielleicht ein Glas Rotwein zum Frühstück bringen?«

      Die Stewardess zögerte gerade lange genug, dass Ulla erklärend hinzufügen konnte:

      »Ich versuche nur, mich an eine der weisesten Empfehlungen des heiligen Thomas von Aquin zu halten: ›Wenn einer vorsätzlich so große Enthaltsamkeit vom Weine übt, gegen seine Natur, dann kann er nicht frei von Sünde sein!‹«

      Die Stewardess lächelte und versprach, ihr eine Viertelliterflasche Casillero de Diablo zu bringen.

      5

      Der Polizist ist in Ordnung, dachte Gerhard, auch wenn er keine Uniform trägt und eher wie ein wohlgenährter Bäcker aussieht. Er hatte alle möglichen Dinge gefragt, aber manches hatte ihn gar nicht interessiert. Zum Beispiel das mit dem Messer. Nicht eine Frage zu dem Messer hatte er gestellt, obwohl er mehrere Stunden da gewesen war, um sie auszufragen. Erst den Vater. Dann die Mutter. Dann Gerhard. Das muss man sich mal vorstellen. Sie waren zu ihm gekommen, bevor sie zu seinem großen Bruder Arnfinn gegangen waren. Und mit Arnfinn, dem Armen, haben sie sich höchstens ein paar Minuten abgegeben.

      Sie, das waren der Polizeibeamte und sein Assistent. Und der Distriktsarzt, Doktor Frihagen. Der Polizist hieß Moe, Svein Moe. Er arbeitete schon ewig in diesem Bezirk, alle Kinder kannten ihn und wussten seinen Namen. Aber der Assistent war neu. Er hieß Karlsen, oder so ähnlich. Gerhard konnte sich nicht erinnern, ihn schon mal gesehen zu haben. Er war jung, auf alle Fälle jünger als Vater, hatte aber bereits eine Glatze. Und einen Bart hatte er auch nicht. Er war nicht sehr gesprächig und hatte Gerhard nur eine Frage gestellt:

      »Hast du keinen Schreck gekriegt, als du ihn gefunden hast?«

      »Einen Schreck?« Gerhard war sich nicht ganz sicher, ob er verstand, wie die Frage gemeint war. »’n bisschen vielleicht. Aber der hat ja nichts gesagt.«

      »Ich dachte eher, weil du ihn vielleicht kanntest?«

      Gerhard schüttelte den Kopf.

      »Nö, darum nich.«

      Aber was ihm Angst gemacht hatte, wollte er nicht sagen: dass der Mann womöglich noch lebte und seinem Vater erzählen könnte, wie schlampig Gerhard mit dem Messer umgegangen war.

      »Schon gut«, sagte der Assistent. »Wir können uns ja ein andermal weiter unterhalten.«

      Dazu hatte Gerhard keine Lust, aber das sagte er nicht laut. Er nickte nur, und damit war das Gespräch beendet.

      Da war der Polizist schon netter, obwohl der schrecklich neugierig war. Er wollte genau wissen, wie der Mann im Wasser gelegen hatte, als Gerhard ihn fand. Und dann wollte er noch wissen, was nach Gerhards Meinung geschehen war, und darauf antwortete Gerhard wahrheitsgemäß, dass er es nicht wüsste.

      »Aber was glaubst du?«, bohrte der Polizist nach. »Dass er am Ruder eingeschlafen und über Bord gegangen ist?«

      Nein, das glaubte er nicht.

      »Warum


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