Der Kamin. Martina Schäfer
pulte die Konto- und Visitenkarte aus meiner Brieftasche und notierte Lilo die Nummer darauf. Lilo spielte derweil mit einem Bierdeckel und zerfledderte ihn nachdenklich unter ihren Händen.
„Mein Mann arbeitet gerade an einer Diplomarbeit über Menschen mit Behinderungen während der Nazizeit mit. Da oben, wo heute das Altersheim ist, da war damals deren Bewahranstalt. Und gleich daneben ein altes Fabrikgelände mit Kamin. Die alten Leute der Stadt erzählen, wenn der rauchte, roch es so seltsam süß.“ Sie schüttelte ernst den Kopf und ich reichte ihr die Nummer herüber. „Du hast es ja gehört, Maggis Großeltern arbeiteten dort, deshalb ist ihre Großmutter, eben Vera Mertens Mutter, wohl auch dort oben in dem Altenheim. Das ist eine ziemlich noble Sache, ihre Kinder könnten das gar nicht finanzieren.“
„Was war denn ihr Großvater?“
„Der Leiter des Heims, der Oberarzt. Vera Mertens Mutter war eine der Kinderkrankenschwestern.“
Lilo bezahlte unsere Rechnung und wir standen auf.
„Irgendwas hat mein Mann auch dazu erzählt.“ Sie warf sich den Mantel über und folgte mir auf den nun autofreien Platz hinaus. „Möglicherweise ist es das, was Maggi immer meint, wenn sie vom ‚blutigen Geld’ ihrer Familie spricht?“
„Was?“
„Mein Mann hilft einem seiner ehemaligen Schüler, ein junger Mann mit schweren, spastischen Lähmungen, dabei, die Diplomarbeit zu schreiben. Der Junge spricht sehr undeutlich und Jens macht einige der Recherchen für ihn hier im Landkreis.“
Wir standen am Rande des nicht so großen Marktplatzes. Die schmalen, grauschieferigen Fachwerkhäuser beugten sich wie sorgenvolle Gouvernanten über die dahineilenden Männer und Frauen unserer Gegenwart, die in der Metzgerei, dem Bäcker daneben, einem Spielwarengeschäft und einer Reinigung ihren Geschäften nachgingen. Sie blinzelten aus kleinen Scheiben den ersten Schulkindern hinterher, die bereits frei um die Ecken gerannt kamen und zogen sich ihre Dächer wie keusche Hauben dicht gegen den aufkommenden Nieselregen über ihre Fachwerkfalten.
Lilo nickte bestimmt: „Ich werde Jens fragen, was genau da oben los war.“
„Los war?“
„Hier bei uns in der Stadt war eines der größten Durchgangsheime für das so genannte ‚unwerte Leben’, ein KZ für so genannt ‚Mongoloide’, ‚Spastiker’ oder wen die sonst noch als Halbmensch abstempelten. Du musst mal in den Stadtpark gehen, gleich beim Kriegerdenkmal steht auch das andere aus den sechziger Jahren: Aber sehr viel kleiner und gut ver-steckt!“
„Ein Ort wie Hadamar?“
„Ja, und irgendwie mischten Vera Mertens Eltern da mit. Aber auf wessen Seite, das weiß ich nicht, das kann Jens mir vielleicht sagen. Veras Toleranz, ihre Solidarität mit allen Leuten, die schwach, ausgegrenzt oder sonst wie Außenseiter waren, das rührte daher, das hat sie uns auch oft genug erzählt.“
Lilo schüttelte mir die Hand: „Wir sehen uns am Freitagabend! Kommst du ein paar Minuten früher?“
„Natürlich. Die Bretter zum Durchhauen ja nicht vergessen! Ich brauche die gleich am Anfang, Samstag früh.“
„Sicher nicht! Bis dann!“
In ihren weiten Mantel gehüllt verschwand sie eilig in einer Seitengasse, die zu der Schule führte, aus der gerade eben die entlassenen Kinder geströmt waren, um ihren jüngsten Sohn aus dem ersten Schuljahr abzuholen.
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