Volles Haus - Skandinavien-Krimi. Kirsten Holst
bedeutete dem Postboten, anzuhalten. Er kurbelte das Fenster herunter.
»Haben Sie etwas für Jens Olsen?«, fragte er.
»Die Wochenzeitung«, sagte der Landbriefträger. »Das ist praktisch die einzige Post, die sie bekommen. Und seine Invalidenrente.«
»Was ist mit Rechnungen?«, fragte Thorsen.
»Die bekommen keine Rechnungen«, antwortete der Briefträger mit leiser Verachtung, als sei er der Meinung, dass es schon schlecht um einen stehen musste, wenn man nicht einmal mehr Rechnungen bekam.
»Nicht mal von der Futtermittelfirma?«, fragte Thorsen leicht verblüfft.
Der Postbote schüttelte den Kopf. »Nein, warum?«
»Nur so«, sagte Thorsen. »Sie gehen besser zuerst hinein. Bekommen Sie normalerweise einen Kaffee?«
»Nicht, wenn ich nur die Zeitung bringe«, sagte der Postbote. »Den gibt es nur, wenn die Invalidenrente kommt.«
»Ich warte dann hier«, sagte Thorsen.
»Wollen sie mit Jens Olsen reden?«, fragte ihn der Postbote neugierig.
»Nein«, sagte Thorsen wahrheitsgemäß. »Mit seiner Frau.«
»Hm.« Der Postbote zögerte ein wenig, doch da Thorsen nicht den Eindruck machte, als seien noch weitere Informationen von ihm zu erwarten, startete er das Auto und fuhr vor dem Hauswirtschaftsraum vor. Thorsen beobachtete im Rückspiegel, wie er aus dem Auto stieg und mit der Zeitung in der Hand zur Tür ging. Er klopfte einmal und ging hinein und Thorsen machte sich auf eine längere Wartezeit gefasst. Doch nur einen Moment später stand der Postbote neben seinem Auto, die Zeitung noch in der Hand. Er sah bleich und erschrocken aus.
Thorsen sah ihn an. Eine Ahnung befiel ihn, ohne dass er sich richtig im Klaren darüber war, was er da empfand.
»Sie ... ich denke, Sie sollten mitkommen Thorsen«, stammelte der Postbote unsicher. »Der Hund, wissen Sie. Er liegt im Hauswirtschaftsraum. Mausetot. Es sieht so aus, als ob ... Da ist schrecklich viel Blut. Sie sollten besser mitkommen.«
Thorsen war bereits ausgestiegen. Schnell ging er zum Haus. Die Tür zum Hauswirtschaftsraum stand offen und auf dem Boden lag in einer Blutlache ein schwarzweißer Hund mit einer Axt im Kopf. Doch das waren nicht die einzigen Blutspuren. Sowohl an der Außentür als auch an der Tür zur Küche klebte Blut, als hätte sie jemand mit blutigen Händen geschlossen. Rote Fußspuren führten von der Küchentür zur Tür zum Hauswirtschaftsraum, wo Holzschuhe fein säuberlich in einer Reihe standen. Er atmete einmal tief durch, öffnete die Tür zur Küche und blieb ganz still in der Türöffnung stehen. Der Postbote hatte sich hinter ihn gedrängt und blickte ihm über die Schulter.
»O Gott!«, rief er. »O Herrgott im Himmel!«
Dann drehte er sich schnell um und stürzte ins Freie.
2.
Thorsen blieb unbeweglich in der Tür stehen. Weder hörte er den Schrei des Postboten noch bemerkte er, wie dieser verschwand. In seinem Kopf herrschte eine dröhnende Leere. Seine Sinne waren wie betäubt. Er hörte nichts, sah nichts, fühlte nichts. Sein Hirn streikte, schien nicht begreifen zu wollen, was seine Augen ihm mitzuteilen versuchten. Vielleicht dauerte es Minuten, vielleicht nur Sekunden, bis es langsam wieder zu funktionieren begann und sein erster klarer Gedanke, für den er sich in dem Moment, als er ihn dachte, auch schon schämte, war: »Als Rentner wäre dir das erspart geblieben.«
Er atmete tief durch und schluckte seine Kirschkerne hinunter. Das half ein bisschen, fand er. Er versuchte, sich daran zu erinnern, dass er Polizist war. Er musste etwas tun. Aber was? Das hier war ein Tatort, aber kein gewöhnlicher. Es bestand kein Zweifel, was passiert war und wer es getan hatte. Sein Blick wanderte noch einmal durch die Küche, doch diesmal prägte er sich die Details ein, fotografierte den Raum förmlich ab. Gegenüber der Tür zum Hauswirtschaftsraum stand die Tür zu einer kleinen Kammer offen. An der den Fenstern gegenüberliegenden Wand stand zwischen zwei Türen ein altmodischer Ofen. Die eine Tür war geschlossen und führte wahrscheinlich ins Wohnzimmer, die andere stand weit offen und führte in ein Schlafzimmer, das kaum größer war als die Kammer. Sein Blick fiel auf einen Brief, der auf dem Küchentisch unter dem Fenster an einer grünen Kaffeedose lehnte. An die Polizei stand da in einer großen, etwas altmodischen Handschrift.
Unwillkürlich streckte Thorsen die Hand danach aus, doch dann schüttelte er den Kopf und steckte die Hände schnell in die Taschen. Nichts anfassen. Nur nichts anfassen. Alles musste bleiben, wie es war, und er musste schnellstmöglich Hilfe holen.
Er hatte sich gerade zum Gehen gewandt, als ein Laut ihn erstarren ließ. Ein Stöhnen. Jemand stöhnte. Jemand, der in diesem Schlachthaus noch am Leben war. Der Laut kam aus dem Schlafzimmer.
Thorsen zögerte einen Augenblick. Dann ging er vorsichtig um die kleinen leblosen Gestalten auf dem Boden herum ins Schlafzimmer.
Es war die Frau, die er gehört hatte. Sie lag auf der einen Hälfte des Doppelbetts. In der Mitte, eng an sie gepresst, lag ein Baby. Die andere Hälfte des Bettes war unberührt.
Thorsen ging zum Kopfende und beugte sich zu der Frau hinunter, während er es vermied, in ihr verunstaltetes Gesicht zu sehen.
»Wer ist da?«, murmelte sie und blickte ihn mit einem halb offenen Auge an.
»Polizei«, sagte er. »Thorsen.«
»Warum?« Ihre Stimme klang verwundert und anklagend zugleich. »Was soll das? Er war es doch nicht.«
Thorsen runzelte die Augenbrauen. Was hatte sie da gesagt? Er sah sie verwirrt an.
»Wie meinen Sie das?«, fragte er unsicher. »Hat Jens Olsen nicht ...?« Er machte eine Bewegung mit der Hand.
»Doch, das hier schon«, sagte sie und griff sich langsam mit einer Hand an den Kopf. »Aber nicht das Mädchen. Mit dem Mädchen hatte er nichts zu tun.«
Thorsen biss sich auf die Lippe. Sicher wusste sie nicht, was sie sagte.
Wieder stöhnte die Frau.
»Ich rufe einen Arzt«, sagte Thorsen und berührte ihren Arm. »Gleich kommt ein Arzt.«
Sie schien ihn nicht zu hören.
Ihre Hand tastete über die Bettdecke nach dem Kind.
»Der Kleine«, sagte sie. »Er ist so kalt. Würden Sie ihn bitte zudecken!«
Erst jetzt ging Thorsen auf, dass sie wahrscheinlich keine Ahnung hatte, was passiert war.
Vorsichtig beugte er sich über die Frau und zog behutsam ein Stück der Bettdecke über den zertrümmerten Kinderschädel.
»So«, sagte er und stellte fest, dass seine Stimme belegt war. Dann richtete er sich schnell auf und verließ das Zimmer. Er hatte keine Kirschkerne mehr und jetzt überwältigte ihn die Übelkeit.
Høyer hatte gerade den Hörer aufgelegt, als Therkelsen hereinkam.
»Wie wäre es mit ein paar warmen Frikadellen zu Mittag, Høyer? Du bist doch Strohwitwer. Ich lade dich ein«, sagte er und fügte erklärend hinzu: »Ich muss heute nicht ins Gericht. Er ist krank geworden.«
»Der Richter?«, fragte Høyer leicht verwundert.
»Wenn es nur so wäre!« Therkelsen schnitt eine Grimasse. Richter Bækgaard war sein liebster Feind. »Nein, Chlorophyll-Jørgen. Er ist heute Vormittag ins Krankenhaus gekommen. Bauchspeicheldrüsenentzündung, haben sie gesagt. Es klang ziemlich ernst.«
»Das ist es auch«, sagte Høyer. »Man kann daran sterben und dann ist es ernst. Das kommt vom Suff. Kann es jedenfalls, und in seinem Fall scheint das auch ziemlich wahrscheinlich.«
»Also, was sagst du? Frikadellen?«
Høyer schüttelte den Kopf. »Nein, aber du kannst mich begleiten. Thorsen hat gerade angerufen.«
»Thorsen?«, Therkelsen sah ihn fragend an.