Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja. Liliana Kern

Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja - Liliana Kern


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bezog es samt ein paar anderen Mitstreitern. Die an den übermäßigen Wohlstand gewöhnte Sofja wurde ihrer Rolle als Hauswirtin erstaunlich gut gerecht: »Niemand hätte in dieser einfachen Frau, die im Kattunkleid4, groben Stiefeln und einem baumwollenen Kopftuch das Wasser von der Newa herbeischleppte, das ehemalige Edelfräulein vermuten können. … Den Haushalt hielt sie tadellos sauber und schimpfte stets mit uns Männern, wenn wir den Schmutz von den unbebauten Straßen in die Wohnung hereintrugen. Sie versuchte dabei ihrem Gesicht einen griesgrämigen Ausdruck zu verleihen, trotzdem lächelte jeder von uns sie dabei freundlich an und nahm ihr die Rügen nicht übel, weil man mit einer Pedantin zu tun hatte«, behauptet Sofjas Pendant Petr Kropotkin, der als Einziger in der Lage war, das Ausmaß der Verwandlung der jungen Frau wahrzunehmen und dieses richtig zu beurteilen.

      Doch »in ihrer Freizeit demonstrierte Sofja wenig Strenge und plauderte gerne. Ihr Lachen war so klangvoll, so ansteckend, dass es alle Anwesenden zwangsläufig mitriss.« »Nach kurzer Zeit wurde sie des Quatschens überdrüssig, und ohne unhöflich zu werden, verschwand sie diskret, mit gleicher Leichtigkeit und Natürlichkeit, mit welchen sie soeben geschwätzt und gescherzt hatte, um mit ihren flinken, leichten Schritten die Stadt zu vermessen. Mit ein wenig nach vorne geneigtem Haupt, mit zusammengezogenen Augenbrauen und den tief in den Manteltaschen gesteckten Händen schaute sie ständig auf das Pflaster. Ernst, gedankenversonnen dachte sie über die noch zu erledigenden Aufgaben fort, damit sie nur keine Zeit verlöre.«

      Gewiss schmeichelte der scheuen, schüchternen jungen Frau sehr, dass sie plötzlich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte und die ungeteilte Anerkennung ihrer Freunde genoss. Deswegen verschwand auch in kurzer Zeit ihr ehemaliges Unbehagen den Männern gegenüber. Dass sich die äußerst introvertierte, nicht unbedingt kontaktfreudige Sofja einer so großen Beliebtheit erfreute, ist höchstwahrscheinlich einerseits auf die Bewunderung zurückzuführen, die ihre Abstammung bei den Kommunarden erregte. Sie stand in direkter Verwandtschaft zur Zarenfamilie, nicht mehr und nicht weniger, und die Dynastie Romanow, wie übrigens jede Herrscherfamilie weltweit, umhüllte seit eh und je eine gewisse Aura der Faszination. Die jungen »Tschaikowzen« durften wohl gegen das Aschenputtel-Syndrom genauso wenig gefeit gewesen sein, wie wir es heute sind. Jeder der Autoren, unabhängig von dem Zeitkontext, der jemals über Sofja auch nur ein paar Sätze geschrieben hat, versäumte nicht, ihre Wurzeln zu erwähnen, obgleich das Mädchen selbst gar keinen Wert darauf legte.

      Andererseits hatte die Generalgouverneurstochter, wie kaum ein zweites der »Tschaikowzen«-Mitglieder, mit dem Ausbrechen aus der elterlichen Obhut so viel aufs Spiel gesetzt und wie kaum ein zweiter Kamerad einen so enormen Verzicht geleistet. Obendrein stellte Sofja, zusammen mit Petr Kropotkin, einen Einzelfall dar. Das Bewusstsein, eine solche Person in den eigenen Reihen zu haben, erfüllte die »Tschaikowzen« sicherlich mit Stolz und bescherte ihnen ohne Zweifel ein erhebliches Ansehen im Vergleich mit anderen Kommunen.

      In der Zuneigung ihrer Freunde schwelgend, kam Sofja niemals in Versuchung, sich mit der Arbeit der Kommune kritisch auseinanderzusetzen. Auch dann nicht, als sich die Organisation von ihrer einstigen mystischen Lehre über die geistige Erneuerung Russlands durch eine neue Moral abwandte, sich immer stärker politisierte und nun die Aufklärungsarbeit unter Jugendlichen aufnahm. Das beinhaltete ebenso die Verbreitung der vom Standpunkt des Zirkels relevanten Literatur, so brachten die »Tschaikowzen« neben den legalen Werken allmählich auch die illegalen in Umlauf. Da diese verständlicherweise ausschließlich im Ausland zu beschaffen waren und der Kommune für deren Erwerb die finanziellen Mittel fehlten, startete sie eine eigene verlegerische Tätigkeit, indem sie eine Druckerei in der Schweiz, im Zentrum der russischen Emigration, einrichtete. Neben dem Vertrieb der gekauften Publikationen übersetzte der Zirkel etliche Titel und gab diese selbst heraus, unter anderen Das Kapital von Karl Marx, die Werke der Frühsozialisten Charles Fourier oder Louis Blanc, des sozialen Ökonomen John Stuart Mill, des utopistischen Philosophen Wassili Berwi-Flerowski und des Anarchisten Joseph Proudhon. Die neue Tätigkeit trug bald Früchte, weil es »in den achtunddreißig Gouvernements Russlands kaum einen größeren Ort gab, wo die Verbreitung der ›Tschaikowzen‹-Literatur nicht betrieben wurde.«

      Die Einfuhr der verbotenen Bücher brachte die Kommunarden zwangsläufig in Kontakt zu den im westlichen Grenzgebiet des Landes angesiedelten Schmugglerbanden. Wie die erste Kontaktaufnahme zustande kam, schildert Petr Kropotkin: »Aus der Schweiz fuhr ich über Wien und Warschau und stieg in einem polnischen Grenzstädtchen ab. Schon am nächsten Tag begab ich mich zum Marktplatz, wo sich viele Einwohner tummelten, aber ich hatte keine Ahnung, wen ich unter ihnen ansprechen sollte oder woran der richtige Mann zu erkennen wäre. Nachdem ich alle Straßen erfolglos durchkämmt hatte, machte ich mich am Rande der Verzweiflung auf den Weg ins Hotel. Dort überwand ich mich doch, indem ich einen in der Tür stehenden alten Mann ansprach. ›Das ist kein Problem‹, versicherte er. ›Ich hole sofort den Geschäftsvermittler der Firma – für Sie! – Internationaler Handel von Lumpen und Knochen, welche ein dichtes Schwarzhändlernetz in der ganzen Welt besitzt.‹

      Nach etwa einer halben Stunde erschien er wieder in Begleitung eines jungen Burschen, der fließend Russisch, Polnisch und Deutsch beherrschte. Der ›Kommissionär‹ musterte mein Gepäck und wollte wissen, um welche Ware es sich da handelte. ›Es sind streng verbotene Bücher, daher müssen sie illegal ins Land befördert werden‹, erklärte ich, worauf er replizierte: ›Ehrlich gesagt machen wir so was nicht. Wir beschäftigen uns nur mit Seidenwaren, und die berechnen wir nach Gewicht. Würde ich das mit euren Paketen tun, käme ein ganz schönes Sümmchen auf euch zu. Außerdem gestehe ich dir ganz ehrlich, ich mag keine Geschäfte mit Büchern. Sollten wir – behüte Gott! – von der Polizei angehalten werden, haben wir sofort einen politischen Prozess auf dem Hals. Dann wird der Internationale Handel von Lumpen und Knochen das letzte Hemd verhökern müssen, um aus der Patsche herauszukommen.‹«

      Da der Gruppe aber keine andere Möglichkeit zur Verfügung stand, nahmen sie doch die kostspieligen Dienste der Kriminellen in Anspruch. Zahllose Nächte verbrachte Sofja mit dem Chiffrieren von Briefen an Kontaktpersonen, dem Benachrichtigen von Vertreibern über den Sendungsempfang oder aber dem Aus- oder Einpacken von Büchern.

      Der Transport verlief nicht immer reibungslos. In eine der »Pannen« war Wassili Perowski, mittlerweile auch ein »Tschaikowzer«, verwickelt. Kurz nach Sofja hatte der junge Mann ebenfalls das Elternhaus verlassen und lebte in einer Männerkommune, deren Wohnung als Lager für die Lieferungen aus der Schweiz diente. Bei der Öffnung einer Sendung stellte sich heraus, dass sich darin statt Bücher Lumpenkleider, Stroh, Ziegelsteine, ja diverser Abfall befand. »Wir dachten, es sei das Handwerk der Geheimpolizei, und beeilten uns, alle Spuren rasch zu vernichten: Stofffetzen im Ofen zu verbrennen und den Rest irgendwo im Garten oder sonst wo zu vergraben«, so Perowski. »Diese Operation dauerte eine ganze Nacht. Als wir endlich erleichtert aufatmeten, fragten wir uns, wer dahinterstecken könnte, weil sich kein Polizist bei uns blicken ließ. Aus dem Telegramm unseres Schmugglers wurde uns klar, dass eine konkurrierende Bande, die sich mit unserer bekriegte, eine fette Beute in unseren Paketen vermutend, an einer der Zugstationen einen Tausch der Pakete vollzogen hatte. Unser Mann ging der Sache nach und informierte uns, die Bücher befänden sich in Riga zum Abholen parat, und verlangte die Erstattung der ihm im Laufe der Recherche entstandenen Kosten.«

      Auf der Suche nach preiswerteren Kanälen beauftragten die »Tschaikowzen« ein dänisches Schiff mit der Beförderung, und diesmal ging die komplette Sendung verloren, da der Kapitän in letzter Minute doch kalte Füße kriegte und alle Pakete im Meer versinken ließ.

      Was hatte eigentlich die Nihilisten veranlasst, die Bildung so zu preisen und dafür sogar Kopf und Kragen zu riskieren? Bei der Beantwortung der Frage stößt man erneut auf die bereits erwähnte, nach dem Ende des Krimkrieges initiierte Reform des Bildungswesens sowie auf den langen Schatten des Attentäters Dmitri Karakosow. Nachdem sich mittlerweile die Demonstration als ein unwirksames politisches Instrument beziehungsweise die Rückkehr zum einstigen Liberalismus als ein Traum erwiesen hatte und die Ära des Obskurantismus in die Lehranstalten zurückgekehrt war, suchten sich die Jugendlichen illegale Wege, um ihr Bedürfnis nach einer dem Zeitgeist angemessenen Ausbildung befriedigen zu können.

      Mit ihrer aktiven Teilnahme an der Arbeit der »Tschaikowzen« bewegte sich Sofja, ohne das überhaupt bewusst


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