Helmut Schön. Bernd-M. Beyer
erlangte Schöns direkter polnischer Gegenspieler von Chemnitz, Wladyslaw Szczepaniak, große Popularität. Wie der Journalist Thomas Urban berichtete, spielte er unter deutscher Besatzung »für eine Untergrundmannschaft in Warschau und wurde eine der großen Figuren des ›verbotenen Fußballs‹«. Szczepaniak überlebte den Krieg und durfte beim ersten Länderspiel 1947 die polnische Nationalelf als Kapitän anführen.
Bei seinem zweiten Auftritt im Nationaltrikot konnte Helmut Schön ähnlich stark beeindrucken wie bei seinem Debüt. Er agierte in einem neu formierten Sturm halblinks an der Seite der Wiener Wilhelm Hahnemann, Hans Pesser und Josef Stroh sowie des Neuendorfers Jupp Gauchel. Hinten dagegen stand der »rein deutsche« Abwehrblock der Breslau-Elf um Paul Janes. Schön erzielte den 2:1-Führungstreffer – per strammem Schuss aus 20 Metern – und bereitete alle weiteren deutschen Tore zum 4:1-Endstand vor. »Schön entschied buchstäblich dieses Spiel für Deutschland«, schrieb der »Fußball« und fuhr höchst anschaulich fort: »Dieser spindeldürre, junge Mann mit den langen, spinnenartigen Beinen und dem feingeschnittenen Schädel stellt einen ganz anderen Fußballertyp dar, als er bisher in unserer Nationalelf vertreten gewesen ist. […] Schöns Rückkehr in die Reihen unserer Nationalen enthebt die Betreuer der Nationalelf jedenfalls mancher Sorgen.«
Eine Woche später gelang auch gegen Rumänien in Bukarest ein 4:1, wieder stand Schön mit den drei Wienern auf dem Platz, doch bemängelte Friedebert Becker im »Kicker« das mangelnde Zusammenspiel der Stürmer: »Er [Schön] wurde nur stiefmütterlich mit Vorlagen bedacht. Und typisch ist, daß er sein Krafttor im Anschluß an ein mißglücktes Solounternehmen Strohs erzielte. […] Im Sturm spielt heute eben alles mit Vorliebe allein.« Ganz anders hatte Schön selbst das Spiel in Erinnerung, schon weil »ich das große Vergnügen [hatte], einmal in einer ausgesprochen wienerisch spielenden Mannschaft zu stehen, was ich mir schon lange gewünscht hatte. […] Nach und nach setzte sich unser Spiel durch, und wir ›scheiberlten‹ nach Wiener Art.« Eine österreichische Zeitung habe danach getitelt: »Ein neues Wunder-Team ist erstanden!«
Nach dem Spiel gegen Belgien, im Januar 1939, war auch Reichstrainer Herberger von der Vorstellung seines Dresdners begeistert: »Schön war unser Bester«, schrieb er in einem Rapport an DFB-Führer Felix Linnemann, während er in seinen persönlichen Notizen eine Einschränkung machte: »Schön: schön! Gefahr der Übertreibung seiner Kunststückchen.« Und für weitere Spiele hielt Herberger fest: »Schön kommt wieder zum Einsatz, weil er 1. der Geeignetste ist den jungen Kräften Führer zu sein, Führer der zwei schnellen Halbstürmer! Und weil er auch No. 1 ist für den Führerposten in der Olympiamannschaft.«
Einen echten Gradmesser für das tatsächliche Niveau des deutschen Fußballs bildete allerdings erst die Partie gegen den zweifachen Weltmeister Italien, die Ende März 1939 in Florenz stattfand. Herbergers Elf verlor nach gutem Spiel mit 2:3, und der »Fußball« sah in der Leistung der deutschen Stürmer den Beweis, »daß uns seit Sindelars Tod ein Klassemittelstürmer fehlt«. Die Kritik galt auch Schön: »Der große Regisseur, der mitreißende Gestalter, den viele in ihm erwartet hatten, war er nicht.« Helmut Schön selbst führte seinen schwachen Auftritt auf »falschen Ehrgeiz« zurück: Er habe sich bei der Anreise im schlecht geheizten Zug eine Bronchitis geholt, diese aber verschwiegen, weil er unbedingt spielen wollte. Ein fataler Fehler: »Mehr als einmal merkte ich, dass meine Luft nicht ausreichte.«
Gut fünf Monate später begann Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg, und Sportzeitungen wie der »Fußball«, die sich ansonsten politisch meist zurückhielten, ergingen sich in pseudo-patriotischem Getöse: »Mutig und entschlossen, zu jedem Opfer bereit, geht er [der deutsche Sportsmann, d.A.] den Weg, den der Führer aufzeigt.« Das für den 24. September angesetzte Länderspiel in Ungarn sollte als Beweis vermeintlicher Normalität dienen, als Beleg dafür, »daß das von kriegerischen Gegnern angegriffene Deutschland selbst im Abwehr- und Verfolgungskampf mit den Waffen in der Hand noch überschüssige Lebenskraft und Tatendrang für friedlich-kulturelle Aufgaben mobil machen kann« – eine überaus perverse Verdrehung der Realitäten.
In Wahrheit bedeutete der Kriegsbeginn »einen Schock, der sich nicht nur in den Spielen der Vereine, sondern auch in der Nationalelf auswirkte« (Schön). Eine völlig indisponierte deutsche Elf ging in Budapest mit 1:5 unter; der »Dresdner Anzeiger« verteidigte immerhin den Auftritt des Sohnes der Stadt: »Schön hatte es in der Mitte sehr schwer, da Szepan nicht die erhoffte Verstärkung war.« Ansonsten habe man »eine Kundgebung herzlicher und wahrer Freundschaft« erlebt und ein »wahrhaft ritterliches Spiel«.
Reichstrainer Herberger sah die Sache realistischer und notierte in sein Tagebuch: »Diese drei Wochen Krieg hatte alle und alles, was an Leistungsvermögen vorhanden war, narkotisiert.« Kleinlaut verkündete der »Fußball«: »Unter solchen Umständen ist schon allein die Reise der deutschen Elf nach dem Ungarland eine Tat.«
Dennoch setzte die DFB-Führung alles daran, unter Kriegsbedingungen möglichst viele Länderspiele durchzuführen; allein 1939 folgten nach Ungarn noch vier weitere Begegnungen. Gegen die Slowakei im Dezember spielte Helmut Schön an der Seite des Fürthers Hans Fiederer, der später als leitender Redakteur im »Kicker« Schöns Werdegang als Bundestrainer wohlwollend verfolgen sollte. Es war kein gutes Spiel der Deutschen, trotz eines 3:1-Sieges. Der »Kicker« tadelte, dass die Chemnitzer Zuschauer ihre Nationalspieler auspfiffen und »daß in diesem Falle ausgerechnet noch ein Spieler besonders zu leiden hatte, der sonst gewissermaßen Idol der Fußballmassen war, ein Spieler, dem man oft zujubelte«. Gemeint war Helmut Schön, der mit »Schön raus!«-Rufen bedacht wurde, was möglicherweise der innersächsischen Rivalität zwischen Chemnitz und Dresden geschuldet war.
Doch auch Herberger notierte enttäuscht: »Meine Hoffnung, dass er sich […] zu einer guten Leistung aufraffen würde, ging nicht in Erfüllung. Schön ist ein Weichling! Auch in Form wird er seine Vordermänner der ersten Garnitur (Binder, Conen, Hahnemann) nicht verdrängen können.« Das harsche Urteil »Weichling« sollte fortan Herbergers Sicht auf Helmut Schön mitprägen. Allerdings rechnete er ihn Ende 1939 weiterhin zum »Kernstück der kommenden Elf« für Olympia 1940 und die Weltmeisterschaft 1942 – zwei Turniere, die jedoch wegen des Weltkriegs ausfielen.
Insgesamt brachte es Helmut Schön im Jahr 1939 auf acht Länderspiel-Einsätze, spielte dabei zweimal als Mittelstürmer und sechsmal als Halbstürmer, sowohl rechts wie links, und erzielte acht Treffer. Der »Fußball« bewertete ihn in seiner Bilanz als »der vielseitigste Spieler«. Der Wiener Traditionsverein Vienna machte dem 24-Jährigen nach dessen eigener Darstellung ein »wirklich verlockendes Angebot«, doch Schön mochte Dresden nicht verlassen, schon gar nicht, nachdem der Krieg ausgebrochen war.
An der Seite von Fritz Walter
Trotz weiterhin hervorragender Leistungen im Verein kam Helmut Schön 1940 in der Nationalmannschaft kaum noch zum Zuge, sicherlich aufgrund Herbergers Vorbehalten. Es war das Jahr, in dem Fritz Walter als Mittelstürmer entdeckt wurde und sehr schnell auf dieser Position als gesetzt galt. Herberger experimentierte mit unterschiedlichen Halbstürmern, vor allem mit dem Wiener Hahnemann und dem Stuttgarter Edmund Conen. Erst im November gegen Dänemark war Helmut Schön wieder dabei, vermutlich nur deshalb, weil Conen verletzt ausfiel. Erstmals spielte er dort an der Seite von Fritz Walter, mit dem er sich nach eigener Einschätzung »blind« verstand. Vielleicht auch deshalb, weil ihre Persönlichkeiten ähnliche Züge aufwiesen: Wie der junge Schön wirkte Fritz Walter im persönlichen Umgang schüchtern, bescheiden und zurückhaltend, während er auf dem Platz mit seiner genialen Spielkunst beeindruckte und dominierte.
Nach dem Dänemark-Spiel wurde beiden allerdings vorgehalten, sie hätten ihrem Wiener Sturmkollegen Franz Binder keine Vorlagen geliefert und zu eigensinnig agiert. Dafür resultierte das einzige Tor des Spiels aus einer gelungenen Koproduktion: Fritz Walter ahnte, dass Schön links in Richtung Tor starten würde, und legte ihm quer durch den Strafraum den Ball vor. »Schön schoß das Siegtor«, überschrieb zufrieden der »Völkische Beobachter« seinen Bericht, der Normalität vortäuschte, wo es keine gab. Denn in Wahrheit stand die Begegnung auf dem Hamburger Victoriaplatz »Hoheluft« ganz im Zeichen des Kriegsgeschehens. In den beiden Nächten vor dem Spiel hatte es in der Hansestadt Fliegeralarm