Was Sara verbirgt. Kathrine Nedrejord
Lajla und Sara sind beste Freundinnen, ein eingespieltes Team. Doch plötzlich ist Sara wie ausgewechselt, ihr Blick leer, ihre Schlagfertigkeit verschwunden, sie hat Angst vor ihrem eigenen Schatten. Und selbst wenn Lajla verspricht, nicht nachzubohren – sie muss den Mistkerl finden, der Sara vergewaltigt hat. Schweigen wäre falsch!
Mit größter Einsicht und Sensibilität findet Kathrine Nedrejord Worte für die Angst, Wut und Verzweiflung eines jungen Mädchens und erzählt zugleich eine bewegende, klug komponierte Geschichte über Freundschaft und Loyalität.
Ein wichtiges Buch zu einem erschütternden Thema!
Kathrine Nedrejord
Aus dem Norwegischen
von Lotta Rüegger und Holger Wolandt
Für Maret Lajla
Inhalt
MANCHE ERINNERUNGEN verändern sich im Nachhinein. Als lege das Gedächtnis einen rosaroten Filter darüber, weil du begreifst, dass damals zum letzten Mal alles gut war. Weder Sara noch ich wissen, dass dies ein solcher Augenblick ist, als wir uns an einem Samstagvormittag Anfang September nach meinem Fußballtraining vor der Sporthalle treffen. Die herbstlichen Farben blitzen zaghaft hervor. Karasjok wirkt müde und entspannt wie wir alle. Wir glauben, ein ganz normales Wochenende würde beginnen.
Sara kaut Kaugummi, pustet Blasen, sagt, dass sie am Kiosk mit ein paar Leuten aus der Zwölften gestritten hat, während sie auf das Ende des Trainings wartete.
»Die glauben wirklich, dass dieses eine Jahr, das sie mir voraushaben, sie unschlagbar macht«, meint sie. »Aber ich habe ihnen die Mäuler gestopft.«
»Und zwar wie?«, will ich wissen.
»Ich hab’ was über Inzucht und IQ gesagt«, erklärt sie grinsend.
Dann lacht sie übertrieben dreckig.
Ihr Hexengelächter, wie sie es nennt.
Ich lächle kopfschüttelnd.
»Irgendein Tor geschossen?«, fragt sie und deutet mit dem Kopf auf die Sporthalle hinter uns.
»Ja, klar«, antworte ich.
»Aber nicht so viele wie Máhtte«, stichelt sie.
Sie weiß, wie sehr es mich stört, dass mein kleiner Bruder allgemein für sein sportliches Talent bekannt ist. Obwohl ich zwei Jahre älter bin, habe ich diesen Status nie auch nur annäherungsweise erreicht. Wenn die Leute meinen Nachnamen hören, dann denken sie gleich an Máhtte. Sara weiß, wie sehr mich das nervt. Als Antwort gähne ich nur. Sara knufft mich in die Seite.
»Keine Panik«, sagt sie. »Du holst Gold, wenn es nach mir geht.«
»Es geht aber nicht nach dir«, seufze ich.
Ich schließe mein Fahrrad auf und schiebe. Sara hasst Fahrräder, also bleibt mir nichts anderes übrig, als zu Fuß zu gehen, obwohl der Weg von der Sporthalle ins Zentrum ganz schön weit ist. Wir sind allein mit der Straße und den Bäumen. Karasjok – der Ort auf der Landzunge im Fluss, wie unser Norwegischlehrer aus dem Süden in der ersten Stunde zufrieden verkündete. Das hatte er sich angelesen. Er wollte uns beweisen, dass er kein dummer, unwissender Norweger ist. Und wirkte gerade deswegen erst recht wie einer.
»Was hast du heute Abend vor?«, frage ich. Das ist eine vollkommen harmlose Frage, und ich ahne nicht, dass ich mir über diese Unterhaltung bald das Hirn zermartern und nach Anhaltspunkten suchen werde.
»Klemet«, antwortet Sara und bläst noch eine Kaugummiblase.
Ich verziehe das Gesicht. Sara, der das nicht entgeht, hebt die Augenbrauen.
»Er ist ganz in Ordnung, wenn man mit ihm allein ist«, sagt sie.
»Schon gut«, erwidere ich.
Sara lacht.
»Herrgott, Lajla!«, sagt sie. »Du bist so eine schlechte Lügnerin.«
»Ich lüge nicht.«
»Du hasst ihn doch.« Sie lacht und knufft mich schon wieder.
Aber da täuscht sie sich. Ich hasse Klemet nicht. Ich begreife nur nicht, was jemand wie Sara in ihm sieht. Sie, zierlich-klein, mit kohlrabenschwarzem Haar und schmalen Augen – hübsch, aber nicht auf diese durchschnittliche Art, immer ohne Makeup, aber in Kleidern, die ihr viel besser stehen als allen anderen. Streifen, Muster, Farben. Sara ist der einzige Grund dafür, warum ich die Weiterführende Schule hier im Ort gewählt und mir nicht ein Zimmer in Alta genommen habe.
Und wer ist Klemet schon? Ein Achtzehnjähriger, der letztes Jahr die Schule geschmissen hat. Er ist das schwarze Schaf der Familie und kriegt nichts von dem hin, was sein großer Bruder Jonas schafft. Dass sie überhaupt Geschwister sind, ist ein Rätsel. Jetzt arbeitet Klemet Teilzeit bei Rema 1000, dem Supermarkt im Zentrum, und schraubt an