Rulantica (Bd. 1). Michaela Hanauer

Rulantica (Bd. 1) - Michaela Hanauer


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und stößt urplötzlich aus dem Innern des Wracks hervor, direkt auf Aquinas Gesicht zu. Mit den meisten Meeresbewohnern kommt Aquina prima aus, aber mit Muränen, vor allem mit Wrackmuränen, ist nicht zu spaßen. Doch heute kann sie nicht einfach verschwinden, Snorri ist viel zu wichtig! Aquina weicht im Zickzack aus, hält den linken Arm schützend vor ihr Gesicht und rupft mit dem rechten schnell weiter an der Planke. Nur ein Stückchen noch, dann gibt der letzte Nagel nach. Aber die Muräne hat ebenfalls eine Kehrtwende hingelegt und denkt gar nicht daran, den Abbau ihres Unterschlupfs tatenlos hinzunehmen. Sie schnappt zu. Uh, wie das brennt! Aquina beäugt die fiesen kleinen Löcher, die die Zähne auf ihrem Handrücken hinterlassen haben. Jetzt ist aber Schluss mit lustig! Das Meermädchen ist richtig geladen, und ohne weiter nachzudenken, brüllt sie die Muräne an: »VERSCHWINDE!«

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      Eine wütende kleine Welle drängt den Fisch zurück, er ist von diesem Ausbruch mindestens so überrascht wie Aquina selbst. Wahrscheinlich ist die Muräne es gewohnt, dass bereits bei ihrem Anblick alle fliehen, spätestens aber, wenn sie zubeißt. Kurz glotzt sie mit ihren runden weißen Augen, in denen die starren schwarzen Pupillen wie Tiefseekrater aussehen, dann tritt sie tatsächlich den Rückzug in den Schiffsbauch an.

      »Warum nicht gleich so?«, knurrt Aquina ihr hinterher. Sie reibt sich die Hand, bevor sie weiter an der Planke zerrt. »Dieses Ding muss doch endlich … Hilfe!« Beinahe wäre Aquina abgerutscht, als plötzlich doch der letzte Nagel nachgibt und wie ein Geschoss aus dem Schiffsrumpf geschleudert wird. Das lange Holzbrett federt hinterher und landet mit Schwung in Aquinas Armen. Auch wenn unter Wasser alles weniger wiegt, ist die Planke verdammt unhandlich, Aquina eiert von links nach rechts, in die Mitte und wieder nach links, sie kann das lange Ding kaum halten, geschweige denn ans Ufer zu Snorri schieben. Die ganze Mühe und der Biss umsonst!

      Aquina legt die Planke auf einem Schiffsdeck ab und streckt den Kopf aus dem Wasser, um nach Snorri zu sehen. Unverändert. Er hängt immer noch fest, nur seine Gegenwehr hat nachgelassen, weil ihm die Kraft ausgeht. Flehend winkt er ihr mit einem seiner freien Arme zu und lässt wieder einen Klagelaut hören, der Aquina antreibt. Sie muss eine Lösung finden! Neben ihr ragt etwas aus dem Wasser. Nicht besonders hoch, nur ein paar Schuppenlängen. Der höchste Mast des gesunkenen Schiffs und gleich darunter das, was die Seeleute Krähennest nennen: der Ausguck, in den sie den schwindelfreisten Matrosen schicken, damit er berichtet, wenn Land in Sicht kommt oder Gefahr droht. Das hat diesem Schiff allerdings nichts genutzt. Selbst wenn der Matrose aufgeweckt genug gewesen sein sollte, die Eiswelle vorher zu sehen, hätte er sich und die Mannschaft nicht retten können. Exena ist genauso eiskalt wie ihre Magie, und wenn sie ein Schiff bemerkt, das der Insel zu nahe kommt, dann ist es wenige Wellenschläge später bereits auf dem Weg zum Meeresgrund und mit ihm die gesamte Mannschaft, die zu Eisblöcken gefriert und keine Chance hat, dem sicheren Tod zu entgehen. Das unterscheidet Exena und die Quellwächter grundsätzlich von den Sirenen: Sie sorgen für handfeste Taten gegen die Menschen anstelle von reinen Abwehrgesängen und normalerweise findet Aquina das furchtbar. Aber nun kommt ihr der Mast des gesunkenen Schiffs wie gerufen. Wenn sie es schafft, die Planke bis hier hochzuhieven, dann könnte sie das Krähennest als Auflage benutzen.

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      Aquinas Gesicht läuft fast so rot an wie Snorris Kamm, als sie versucht, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Immer wieder rutscht die Planke ihr aus der Hand, beinahe schlägt sie sich selbst damit nieder, weil das dumme Teil anfängt, sich um sich selbst zu drehen.

      »Halte durch!«, ruft sie über das Wasser und meint damit genauso Snorri wie sich selbst.

      Sie könnte sehr gut Hilfe gebrauchen, aber es ist weit und breit niemand in Sicht, außer ein paar Schwarmfischen, die nicht einmal in der Lage wären, einen Nagel hochzuheben. Also gut, noch einmal! Mit der Kraft der Verzweiflung packt Aquina das Holzbrett, das schon wieder fast bis zum Grund gesunken ist. Vorsichtig, damit es nicht abdriftet, wuchtet sie es höher und höher. Sie wackelt und wankt, stützt die Planke zusätzlich mit ihrem Fischschwanz, kommt dadurch zwar langsamer, aber dafür stabiler voran. Als ob zumindest das Meer auf ihrer Seite ist, hält es diesmal ganz still, bis Aquina die Planke auf die Höhe des Krähennests gezerrt hat und ablegen kann. Ab jetzt ist es viel einfacher. Wie auf einer Schiene kann sie die Planke in Snorris Richtung schieben, ohne sie gleichzeitig anheben zu müssen.

      »Vorsicht!«, ruft sie ihrem Freund zu. »Hier kommt Hilfe!«

      Snorri beäugt das Brett zuerst wie eine Schlange, die es auf ihn abgesehen hat, und weicht, so weit wie es sein eingeklemmter Arm zulässt, zurück. Erst als er begreift, dass die Planke nicht vorhat, ihn zu fressen, sondern dass Aquina sie lenkt, beruhigt er sich etwas.

      »Na los, halt dich mit den freien Armen daran fest!«, fordert Aquina ihn auf.

      Immer noch skeptisch tippt Snorri mit einer Fangarmspitze auf die Planke. Trotz der ernsten Lage muss Aquina sich ein Schmunzeln verkneifen. Snorris behutsame Tests sind einfach zu niedlich!

      »Trau dich!«, feuert sie ihn an.

      Wahrscheinlich hätte Snorri die Planke noch eine ganze Weile umtänzelt, doch da fällt ein Schatten auf ihn. Snorri und Aquina legen die Köpfe in den Nacken und blinzeln in den Himmel. Aquina zuckt zusammen, ein schwarzer Mauk!

      »Mrk, mrrrrk!« Das Kreischen des riesigen Vogels hört sich wie ein Triumphschrei an.

      »Er hält dich für sein Mittagessen«, ruft Aquina. »Schnapp dir endlich das Brett!«

      Der kreisende Vogel verleiht Snorri den nötigen Antrieb. Er schlingt seine Fangarme um das Holz, so fest er kann, und kneift die Augen zusammen.

      Zuerst probiert Aquina, das Brett zu sich ins Wasser zu ziehen, aber sie merkt schnell, dass die Kraft in ihren Armen nicht ausreicht. Man müsste …

      »MRRRRK!«

      Der Mauk setzt zum Tiefflug an. Keine Zeit mehr zum Überlegen. Aquina hat nur einen Versuch. Sie zieht sich am Krähennest hoch und lässt sich dann von so weit oben wie möglich – Fischschuppenpo voran – auf die kurze Seite des Bretts plumpsen.

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      Dann passiert alles gleichzeitig. Aquina spürt den schmerzhaften Aufprall auf dem Brett, bevor es über sie hinwegklappt. Sie landet im Wasser. Ein Pfeifgeräusch in der Luft. Etwas saust über Aquinas Kopf. Ein lautes Platschen. Das Brett fliegt ihr um die Ohren. Der Mauk lässt ein Kreischen hören. Das Brett überschlägt sich und fällt ins Wasser. Aquina taucht unter.

      Hat sie es geschafft? Hat der Schwung gereicht, um Snorri zu befreien? Oder hat der spitze leuchtend rote Schnabel des Mauks ihn gefangen? Aquina hält auf die Stelle zu, von der das erste Platschen kam. Kein Snorri. Nein, das darf nicht sein! Er muss doch hier irgendwo sein! Mit jedem Schwimmzug wächst ihre Verzweiflung.

      »Snorri! Snorriiiii!«

      »Snr.« Sehr leise, sehr klein. Aber Aquina hat es gehört. Er ist da, hockt auf dem Meeresboden und hält sich mit zwei Armen den Kopf.

      »Geht es dir gut?« Aquina lässt sich neben Snorri nieder und zählt als Erstes nach: eins, zwei, drei, vier, fünf … sechs. Puh, zum Glück sind noch alle Fangarme dran!

      Snorri streckt ihr einen Arm entgegen, der deutlich rot und angeschwollen ist. Mit zarten Fingern streicht Aquina darüber. »Tut’s sehr weh?«

      Snorri schiebt die Unterlippe vor und nickt.

      »Kannst du ihn noch bewegen?«

      Er hebt den Arm und zeichnet einen Kreis ins Wasser, verzieht aber das Gesicht.

      Aquina lächelt ihn aufmunternd an. »Wenn das noch geht, wird es ganz schnell wieder gut!«

      Sie legt den Arm um den kleinen Sixtopus und er kuschelt sich an sie. »Was wolltest du eigentlich an Land?«, fragt Aquina.

      Snorri macht eine Unschuldsmiene.

      »Sag


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