Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2). Siri Pettersen

Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) - Siri Pettersen


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      »Nein.«

      »Finnland?«

      »Das hast du schon mal geraten. Nein.«

      »Island! Island muss es sein! Du hast diesen Laut … wie die Wikinger, das Th im Englischen.« Jay steckte die Zungenspitze etwas aus dem Mund.

      »Wikinger kenne ich nicht«, sagte Hirka und drückte dem Mädchen auf eine Stelle ihrer Schulter, worauf es zusammensackte.

      »Aua, aua, aua! Nein, nicht aufhören! Wikinger? Du hast noch nie was von den Wikingern gehört?«

      Hirka massierte ihr weiter die Schultern, ohne zu antworten.

      »Die Nordmänner, die vor tausend Jahren gelebt haben? Schiffe? Plünderung? Berserker?«

      Das Wort Berserker kam ihr bekannt vor, aber Hirka sagte nichts. Worte klangen häufig vertraut, ohne dass sie etwas bedeuteten. Sie hatte es aufgegeben, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Das war fast immer eine falsche Fährte und machte sie nur traurig. Außerdem hatte sie gelernt, nie ehrlich zu sein. Nie zu sagen, dass sie durch die Steine gekommen war. Oder zu versuchen, Tee aus einer anderen Welt an Leute im Café zu verkaufen. Tat man es, rief der Besitzer die Polizei, und der einzige Ausweg war dann der durchs Fenster auf der Toilette.

      »Kannst du die da rausmachen?« Hirka zupfte an Jays Ohrstöpseln. Die hatte sie immer drin. Jay sah aus, als würden ihr dünne Rinnsale aus Milch aus den Ohren laufen. Jay zog sie heraus, aber sie blieben an einer Klammer auf ihrer Brust hängen.

      »Du musst aufhören zu … Wie heißt das noch? Hängen. Den Rücken hängen zu lassen«, erklärte Hirka.

      »Ich weiß. Ich gehe krumm. Das habe ich von meiner Mutter geerbt. Sie sagt, man musste den Kopf einziehen, da, woher wir kommen. Man musste das, um zu überleben.«

      »Überleben?«

      »Überleben. Existieren. Klarkommen. Weißt du? Nicht sterben?«

      Hirka nickte. Das Wort hatte sie schon einmal gehört, es aber wieder vergessen.

      Jay streckte sich wie eine Katze. Dann holte sie das Handy aus einer Hülle, die an einem glitzernden Band um ihren Hals hing. »Was wollen wir suchen?«

      »Ein anderes Mal«, antwortete Hirka und warf einen Blick auf die Stapel mit schmutzigen Gläsern und Tellern. »Wir müssen aufräumen und zumachen.«

      »Nein, nein, eine Abmachung ist eine Abmachung. Du hilfst mir, ich helfe dir. Was soll ich suchen?«

      »Guck mal nach, ob du eine mit gelben Glockenkelchen findest. Die hat fast keine Blätter«, sagte Hirka. Sie wusch Kuchenreste von einem Teller und stellte ihn in die Spülmaschine.

      »Okay, gelbe Glockenkelche.« Jay drückte auf dem Handy herum. Ihr dunkles Haar hing ihr ins Gesicht. Das machte es immer, wenn die Haarklammern verrutscht waren. Vor allem, wenn es hektisch zugegangen war. Draußen brach Jubel aus. Hirka schaute aus dem Fenster. Das Paar hatte sich mit feuchten Augen und rosigen Wangen auf die Kirchentreppe gestellt, umgeben von Familie und Freunden, die Fotos machten. Die Fotos würden in den Telefonen gespeichert sein. Augenblicke, eingefrorene Zeit.

      Hirka hätte viel dafür gegeben, wenn sie gespeicherte Bilder aus Ymsland hätte.

      Sie fühlte, wie die Trauer ihr Herz umschloss, und beeilte sich, das letzte schmutzige Geschirr in die Maschine zu räumen. Es war sinnlos, an Dinge oder Leute zu denken, die sie sowieso nie wiedersehen würde.

      Für den letzten Teller war gerade noch Platz in dem Geschirrspüler. Sie schloss die Tür und drückte ein paar Mal auf den Knopf. Sie bekam bessere Laune, wenn sie sah, wie das Lämpchen aus- und anging.

      »Hier«, sagte Jay und hielt Hirka das Display hin. »Pflanzen mit gelber, glockenartiger Blüte. Nach welcher suchst du?«

      Hirka schaute sich die Bildchen an. Einige hatten Ähnlichkeit, aber keins zeigte die Goldschelle. Sie spürte, wie ihr die Enttäuschung einen Stich versetzte. Das überraschte sie. Sie dachte, sie hätte die Hoffnung schon aufgegeben.

      »Eine davon muss es doch sein«, meinte Jay. »Ich habe alle Pflanzen mit gelbem, glockenartigem Blütenkelch gegoogelt und ich bin ziemlich gut im Suchen und so. Du solltest das auch mal lernen, Hirka. Ich kenne keinen, der noch nie ein Telefon benutzt hat.«

      »Ich werde nie eins brauchen«, antwortete Hirka, sich schmerzlich im Klaren darüber, dass sie niemanden hatte, den sie hätte anrufen können.

      »Ui, du bist schon mit allem fertig!« Jay stand auf und strich die Schürze glatt. »Dann brauchen wir nur noch abzuschließen und zu gehen. Du bist echt effektiv.«

      Hirka lächelte. Das war in der Regel das Sicherste, was sie tun konnte, wenn sie den Sinn der Sätze nicht ganz begriff. »Wir müssen warten, bis sie weg sind, Jay. Wir gehören nicht dazu.«

      Sie warf einen Blick auf die Menschenmenge draußen. Frauen und Männer mit vor Glück feuchten Augen und in blank polierten Schuhen. Sie füllten den Platz zwischen Café und Kirche.

      Das Café war ein merkwürdiger Ausleger des Kirchengebäudes. Ein Winkel in einem ganz anderen Stil. Ein neuer Flügel, mit Platz für die, die ihn am meisten brauchten. Wie sie ihn selbst gebraucht hatte. Es war ein Ort, an dem Heimatlose sich ein oder zwei Nächte ausschlafen konnten. Wo Arme etwas zu essen bekamen, ohne zu bezahlen. Es gab auch einen Raum, in dem sie Kranken halfen, Hirka hatte ein paarmal dort vorbeigeschaut, doch es war keine einzige Pflanze zu sehen gewesen.

      »Wir können die hier sortieren, während wir warten«, schlug Hirka vor und schüttete einen Sack mit Kleidern auf dem Tisch aus. Sie rochen nach Staub und Schweiß, sahen aber schön aus. Am Anfang hatte es sie überwältigt zu sehen, was Leute bereit waren wegzugeben, doch dann hatte Jay gesagt, es sei Abfall. Sachen, die sowieso niemand mehr haben wollte. Das war schwer zu glauben.

      Hirka legte einen Pullover auf den Haufen mit Sachen, die ausgebessert werden mussten.

      »Vergiss es«, lachte Jay. »Du bist geschickt, aber das schaffst noch nicht mal du zu reparieren.«

      »Der hat weniger Löcher als der, den du anhast.«

      Jay schaute auf ihren eigenen Pullover hinab. »Hallo, das ist was ganz anderes! Der hat absichtlich Löcher. Weil das cool ist, klar?«

      »Dann können wir ja mehr Löcher in den hier schneiden, dann wird der auch cool.«

      Jay guckte sie an, die eine Augenbraue hochgezogen. Ihre Augen rahmte schwarze Schminke ein. Sie schüttelte den Kopf. »Du bist nicht ganz von dieser Welt, oder? Igitt, was ist das denn?«

      Hirka hielt Jays Hand fest. »Halt!«

      Sie nahm Jay das Hemd weg. Es hatte einen blutigen Riss im Ärmel. Sie faltete es zusammen und legte es auf den Wegwerfhaufen. »Blut kann ansteckend sein«, erklärte sie Jay. »Das dürfen wir nicht anfassen.«

      »Oh nee, du ahnst gar nicht, wie ich diese Arbeit hasse!«

      Hirka lächelte. »So sehr, dass du beinahe jeden Tag herkommst?«

      »Nur weil meine Mutter mich dazu zwingt! Sie braucht eine Entschuldigung, um selbst herzukommen und Pater Brody anzuglotzen. Das ist so total peinlich, das glaubst du gar nicht. Ein Pater, hallo? Er darf noch nicht mal heiraten und sie flippt aus, wenn er sie mal zwei Minuten nicht beachtet. Was glaubst du wohl, warum sie so sauer auf dich ist? Weil du die ganze Zeit hier wohnst, klar, oder?« Jay beugte sich vor zu Hirka. »Sie sagt, du darfst gar nicht hier sein, dass er dich der Kinderfürsorge oder so was übergeben müsste.«

      Hirka zuckte mit den Schultern. Es war kein Wunder, dass Jays Mutter sich Pater Brody verbunden fühlte. Dilipa hatte vor vielen Jahren selbst in der Kirche gewohnt, in einem Raum im Keller. Jay war damals gerade geboren gewesen. Jetzt war sie genauso alt wie Hirka und hatte eine kleine Schwester von fünf Jahren. Sie hatten Angst gehabt, dass man sie in die Heimat zurückschicken würde, ohne dass Hirka wusste, wo das war oder wovor sie


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