.
ein Kind, geht ein Kind.
Wie ein Haus, aus Schnee gemacht,
wie ein Pfeil im Gegenwind.
Spurlos ist die Liebe,
wenn du und ich vereint,
verblaßt sie wie die Sterne,
wenn hell die Sonne scheint.
Wie das Blatt im Fallen ruht
auf der Herbstluft so klar,
ruht dein Kopf auf meiner Brust
meine Hand auf deinem Haar.
Wie manche Nächte vergehn
ohne Mond und unbesternt,
werden wir es überstehn,
wenn das eine sich entfernt.
Spurlos ist die Liebe,
wenn du und ich vereint,
verblaßt sie wie die Sterne,
wenn hell die Sonne scheint.
Ich schlief auf dem Sofa ein, Walter Benjamins Baudelairestudie auf dem Bauch. Als ich aufwachte und ins Schlafzimmer schlurfte, stand der Wecker auf zwei. Der Kopf funktionierte durch provisorisch zusammengebastelte Schaltungen und rostige Relais, wie irgendein klappriges Heimwerkerprodukt, notdürftig mit mehreren Schichten Isolierband zusammengehalten. Ich zog mich aus und kroch fröstelnd neben Ragnhilds tief aus dem Schlaf antwortenden Körper, und während ich gierig wie ein Neunauge Körperwärme aus ihrem Rücken und ihren Schenkeln sog, versuchte ich den Traum zu erzählen, aus dem ich auf dem Sofa erwacht war.
»Es war auf Hedås, aber auch wieder nicht so ganz . . . Wir saßen mit einer Menge von Leuten in einem Zimmer, und da war ein Bus, den wir nehmen wollten . . . Die Leute quatschten und redeten ununterbrochen, die Diskussionen waren nicht zu stoppen, immer wenn wir aufstehen wollten, gab es jemanden, der um jeden Preis noch etwas beitragen mußte . . . Und als wir dann auf die Straße rannten, war der Bus vorbeigefahren.«
Sie murmelte, die Worte sanken in ihren Schlaf hinein und lösten sich in Vergessen und Dunkelheit auf, genauso wie sich der Traum in meiner wachen Sprache in sinnlose Fragmente auflöste. Ich legte mich auf den Rücken und schloß die Augen. Auf meiner Netzhaut, oder noch tiefer drinnen, in den Kolumnen der Sehrinde, spielten eigentümliche Lichtphänomene, die sich nicht unter Kontrolle bringen ließen. Wie von beweglichen Lichtkegeln wurden die äußeren Teile des Sichtfeldes in kurzen, rhythmischen Sequenzen erleuchtet. Wie ein Stroboskop, eins von diesen unerträglichen Lichtspektakeln in Diskotheken. Als ich die Augen öffnete, war es dasselbe. Meine Gedanken schraubten sich träge auf einen Leuchtturm an der französisch-spanischen Grenze zu, der die ganze Nacht seine Lanze aus Licht über unseren Köpfen geschwungen hatte, als ich mit zwei Freunden auf einer Interrailreise im Sommer 1972 in Schlafsäcken inmitten fürchterlich dorniger Büsche an dem Berghang über Port Bou lag. Hunde, die aus der Stadt heraufbellten, ein kleines, bösartiges Insekt, das ganz in der Nähe in einem Baum kreischte, und das wir der Reihe nach aufzuspüren und totzuschlagen versuchten, und dann der Lichtkegel des Grenzturms, der wie ein glitzernder Wellenkamm über den Abhang glitt und dicht über unseren Stirnen vorbeistrich. Irgendwann in der Nacht hörten wir auch Schüsse, glaube ich, doch da war alles schon verschwommen.
Allmählich sank ich unter den Rand des Schlafs. Und dann träumte ich wieder, und wieder waren da Hunde, die bellten, wieder waren Soldaten an den Flanken der Berge postiert . . .
Ich erinnere mich überhaupt nicht daran. Ich glaube, es muß tief drinnen in der Sowjetunion gewesen sein, es hatte die Farbe der Wochenschauen von der Ostfront des Zweiten Weltkriegs. Ich trug eine Uniform, weiß aber nicht, von welchem Land. Deutsche Posten legten von einem Berghang aus ein Sperrfeuer über das Tal, in dem ich mit einer Gruppe anderer Soldaten kauerte. Es muß auch Artilleriefeuer dabeigewesen sein, ich sah flüchtig Projektile dicht vor uns durch die Luft streifen. Eine Art Tunnel oder Schützengraben bot den einzigen Fluchtweg aus dem Tal. Ich versuchte mich durch eine Öffnung zu quetschen – es erinnerte stark an meinen qualvollen und lächerlichen Abgang mit dem Kopf voraus durch ein ca. 30 30 Zentimeter großes Fenster, als ich mich auf dem Plumpsklo beim Sommerhäuschen eingeschlossen hatte – doch ich kam nicht durch. Danach befand ich mich übergangslos auf einem Bahnhof, einer Endstation, wie ich mir einbildete, im Inneren Sibiriens. Die Zivilbevölkerung betrachtete mich mit einem gewissen Mißtrauen, ich glaube, ich trug die falsche Uniform, doch irgendwie verstanden die Leute trotzdem, daß ich auf ihrer Seite war. Noch immer war ich in Begleitung einer Gruppe von Soldaten, die vollständig anonym wirkten. Der Zug war abgefahren, wartete jedoch an einem kleinen Bahnhof einige hundert Meter weiter weg. Wir rannten auf ihn zu und hatten ihn fast erreicht, als er uns davonfuhr.
Durchgewalkt und durchgedroschen von anderen und barmherzig vergessenen Träumen erwachte ich am Samstag früh und wußte, daß ich wieder bei mir selber angelangt war. Eine Reihe von Monaten, die sich in einer Art von leer hallendem, labyrinthischen System aus immer engeren, immer dunkleren Gängen abgespielt hatten, wo ich in verbissenem Stumpfsinn mein Leben in der Dunkelheit wie eine Schafherde vor mir hertrieb, geleitet von grellen, fremden Signalen der Menschen droben auf der Erdoberfläche, schrillenden Telefonen, Briefstapeln, die auf dem Tisch wuchsen, Kalenderblättern, die gewendet wurden, und unkenntlichen Menschenstimmen, die mich über die Uhrzeit aufklärten – waren zu Ende. Ich war wieder in der Biosphäre gelandet.
Dieses ungewohnte Gefühl, Arme und Beine bewegen, nach Belieben herumlaufen, planen zu können, ließ mich den ganzen Tag untätig bleiben. Umschlossen von einem bleichen Licht angenehmer Trägheit trottete ich in der Wohnung herum, blätterte in Papieren, hörte mit halbem Ohr Schallplattenmusik.
Es war das letzte Wochende im März.
Das Land lag schlaff und apathisch wie ein Betrunkener in einem Container, der angefüllt war mit dem Müll eines ganzjährig ununterbrochen abgehaltenen Appells, der sich gerade vor einer Woche in allgemeiner Verwirrung aufgelöst hatte. Wenn sich in dem Müll etwas rührte, so war es nur der Betrunkene, der bei der verzerrten Erinnerung an Stimmlagen, hektisch plappernde Münder, rote, grimassierende Gesichter im Schlaf zusammenzuckte. Eine dünne, körnige Eisschicht wurde von einem halbherzigen Wind blankgefegt.
Es war genauso, wie wir uns das Ganze vorgestellt hatten, als wir, einige alte Jugendfreunde, in einem Haus bei Hjuljärn in der Neujahrsnacht die achtziger Jahre einweihten, genauso, wie wir es uns vorgestellt hatten, als wir den Leichenschmaus für die siebziger Jahre hielten, jeder mit seiner Flasche Dünnbier, das im Laufe des Abends neben dem Herd schal geworden war, und dann um Mitternacht hinter der Hausecke Zeichen in den Schnee pinkelten –
»Piss brother!«
ihr wißt schon, diese Kreise mit dem Peace-Zeichen drin, um die Wende des letzten Jahrzehnts herum pflegte ich eines an einer Kette um den Hals zu tragen, gekauft in irgendeinem Kramladen in P-town auf Cape Cod –, es war genauso, wie wir es uns hatten denken können.
Doch jetzt das Gefühl, Arme und Beine wieder bewegen zu können; mein Aufhilfsjob bei einer Stockholmer Zeitung war abgelaufen, vor mir auf dem Tisch lag ein Umschlag mit Zugfahrkarten, der Frühling konnte nicht mehr beliebig lange auf sich warten lassen: Any Day Now, Any Day Now, I Shall Be Released.
Wir kamen am Montag, dem letzten Tag im März, morgens mit dem Nachtzug im Hauptbahnhof von Malmö an und traten in eine Stadt hinaus, die wie leergefegt war von einem starken, gelben Licht, das sich an den braunen Ziegelfassaden brach und in den Fugen des Kopfsteinpflasters glomm. Wir bummelten durch die Straßen, kauften Filme und Reiseproviant, wechselten Geld, saßen auf einem Marktplatz, wo die Rentner zwischen den Ständen herumschlenderten und Preise in Zeit und Raum verglichen. Man kann sich einbilden (ganz besonders natürlich, wenn man Ende März kommt und südwärts Weiterreisen will), Europa beginne dort, in Malmö. Die Leute sehen ausnahmsweise so aus, als sei die Stadt ihr natürliches Biotop, und nicht etwas, wohin sie sich verirrt haben und dem sie möglichst schnell mit heiler Haut wieder entrinnen möchten. Das gibt mir das Gefühl, ein Besucher zu sein, fasziniert und verständnislos.
Spät abends saßen wir in einem Kurswagen nach Budapest, in einem Abteil, das wir mit einer Frau im Alter