SPACE 2021. Eugen Reichl
Testflug nun wiederholt werden muss. Wenn es diesmal klappt wird es an der ISS ein interessantes Bild zu sehen geben. Alle drei bemannten Raumtransportsysteme befinden sich dann gleichzeitig an der ISS: Sojus, Crew Dragon und Starliner. Während also letzterer noch unbemannt unterwegs ist, wird es für SpaceX sicher eine Genugtuung darstellen, dass ihr Raumschiff nun schon den zweiten bemannten Einsatz durchführt.
Im zweiten Drittel ihres Aufenthaltes werden sie etwas erleben, das es nur in einer kurzen Transferphase zwischen der dem Untergang geweihten russischen Raumstation Mir und der noch sehr infantilen Internationalen Raumstation um den Jahreswechsel 2000/2001 gab: Zwei Raumstationen gleichzeitig im Orbit, denn das Tianhe-Basismodul der chinesischen Raumstation soll im Februar oder März starten. Anfang April 2021 findet erneut ein sehr dicht getakteter Schichtwechsel auf der Station statt. Zu diesem Zeitpunkt könnte die ISS dann kurzfristig mit 14 Personen belegt sein. Zunächst startet am 30. März die SpaceX Crew-2 Mission mit Robert Kimbrough, Megan McArthur (der Ehefrau von Bob Behnken), Akihido Hoshide von der JAXA und Thomas Pesquet von der ESA. Nur zwei Tage später folgt nach gegenwärtiger Planung Sojus MS-18. Und das wird mit Oleg Nowitzki, Pjotr Dubrow und Andrei Borisenko zum ersten Mal seit 21 Jahren eine rein russische Crew sein. Wenige Tage danach, das Datum steht noch nicht genau fest, kehrt die Space X Crew-1 (mit Glover, Hopkins, Walker und Hoshide) wieder zur Erde zurück, gefolgt von der Besatzung von Sojus MS-17 am 9. April 2021. Die drei russischen Neuankömmlinge werden gut zu tun haben, denn im April soll zunächst das Nauka-Modul mit einer Proton M-Trägerrakete gestartet werden. Am 23. April legt Progress MS-16 zusammen mit dem Pirs-Modul von der ISS ab. Dadurch wird der Dockingknoten frei, an dem dann Nauka wenige Tage danach anlegen kann. Nauka ist das erste neue Großmodul der ISS seit vielen Jahren.
Im Juli wird die Besetzungslage in der ISS weiter verwirrend bleiben. Werfen wir deshalb einen kurzen Blick nach China, wo etwa um diesen Zeitraum die dreiköpfige Crew von Shenzhou-12 am Tianwe-Modul anlegen soll und dann dort für etwa zwei bis drei Monate bleiben wird. Während ihres Aufenthaltes wird sie möglicherweise noch die Ankunft des Tianzhou 2-Raumfrachters und des zweiten großen Raumstationsmoduls mit der Bezeichnung Wentian miterleben. Die zeitliche Verteilung ist aber noch ungewiss. China hat für die Inbetriebnahme seiner nationalen Raumstation auf jeden Fall zwischen Juli 2021 und Dezember 2022 vier bemannte Shenzhou-Missionen vorgesehen. Nach dem Dezember 2022 ist die Aufnahme des permanenten Betriebs der chinesischen Raumstation geplant.
Bei positivem Ausgang des unbemannten OFT-2 Testfluges werden im Juni 2021 auch die ersten Astronauten mit Boeings Starliner an der ISS eintreffen. Dieser Einsatz ist mit einer Dauer von mehr als 100 Tagen von vorneherein als Langzeitflug geplant. Kommandant ist Christopher Ferguson von Boeing (ein früherer NASA-Astronaut). Begleitet wird er von den beiden NASA-Astronauten Michael Finke und Nicole Mann. Das hat nun zur Folge, dass die ISS bis in den August hinein mit zehn Personen besetzt ist.
Sollte die momentan gültige Planung halten, dann wird es Anfang August für etwa eine Woche wieder ziemlich belebt auf der ISS, denn der Start der SpaceX Crew-3 am 12. August überschneidet sich mit der Rückkehr des SpaceX Crew-2 um etwa eine Woche. Die vierköpfige Besatzung von SpaceX Crew-3 ist derzeit noch nicht vollständig benannt. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich dann elf Personen auf der ISS. Dazu kommen die vermutlich drei Taikonauten der chinesischen Raumstation womit erneut 14 Menschen gleichzeitig im Orbit wären.
Eine Frage ist nun, wo die eingangs erwähnte „Spezialmission“ eingeflickt wird. Irgendwann im Herbst sollen nämlich auch Tom Cruise, Doug Liman und eine noch ungenannte dritte Person zusammen mit Chris Cassidy von Axiom Space zu einem Flug von etwa 30 Tagen Dauer zur ISS starten, um dort – ein Novum in der Geschichte der Raumfahrt – einen offiziellen Filmdreh durchzuführen. Am 8. September startet von Baikonur aus eine Spezialversion des Progress-Versorgungsschiffes mit der Bezeichnung Progress MS-UM. Dieses Fahrzeug bringt das neue Prichal Docking-Modul zur ISS und macht es am Nauka-Modul fest. Prichal verfügt über sechs Docking-Ports. Am 5. Oktober 2020 stößt auch Sojus MS-19 zur Station. Sie steht unter dem Kommando von Anton Schkaplerow. Mit ihm fliegen Andrei Babkin und Sergei Korsakow. Nun sind zehn Personen an Bord, bis am 13. Oktober Sojus MS-18 zur Erde zurückkehrt. Gegen Ende Dezember kommt auch die Zeit für den zweiten bemannten Starliner-Flug, nämlich die Mission CST-1. Hier steht die Besatzung schon weitgehend fest. Kommandantin wird Sunnita Williams sein, als Pilot fungiert Josh Cassada und mit an Bord werden Janette Epps sein und möglicherweise Matthias Maurer, der deutsche ESA-Astronaut. Das hängt aber stark von der Verfügbarkeit der Starliner-Kapsel ab, denn zum Zeitpunkt an dem diese Zeilen entstehen müssen ja noch zwei Testflüge absolviert werden.
Wundern Sie sich nicht, wenn die eine oder andere Besatzung in einem Jahr etwas anders aussieht und sich auch die Ansätze für die Zeitplanung etwas verschieben. Was dieses Bild aber vermittelt: Es kommt viel Bewegung in den Betrieb der ISS. Die ruhigen Zeiten, wo man auf Jahre hinaus die jeweils zwei Besatzungen pro Jahr kannte, sind vorbei. Ab jetzt werden die Dinge ziemlich dynamisch – und dieser Zustand wird anhalten. Zumindest für eine Reihe von Jahren. Meine Schätzung: Bis etwa 2030.
Die ISS in zehn Jahren
Was nun kommt ist nicht mehr als eine qualifizierte Vermutung. Es kann auch ganz anders kommen. Katastrophen, politische Erdrutsche oder ähnliches können innerhalb von Tagen jegliche Planung über den Haufen werden. Aber gehen wir davon aus, dass die Weltlage nicht schlimmer wird als sie es heute ist, sich keine neuen Pandemien, gewaltigen Naturkatastrophen und Weltwirtschaftskrisen ereignen, dann könnte das Schicksal der ISS um das Jahr 2030 wie folgt aussehen:
Überraschenderweise existiert sie noch immer, obwohl ihr baldiges Ende schon für die frühen 2020er-Jahre prognostiziert wurde. Doch um 2030 oder nicht allzu lange danach zeichnet sich das Ende ihrer Existenz ab. Gegen Materialermüdung kann auch politischer Wille nichts ausrichten.
Die ISS ist in den letzten 10 Jahren stark gewachsen. Es gibt neben Nauka noch mehrere russische Module, die neu hinzugekommen sind. Das Unternehmen Axiom Space hat im Jahr 2030 insgesamt vier Module am US-Segment angekoppelt. Damit ist der Samen für die weitere Nutzung vieler dieser Komponenten bereits gesät. So werden aus der ursprünglichen großen Internationalen Raumstation die Keimzellen für eine Reihe kleinerer und auf spezielle Aufgaben fokussierter Stationen entstehen.
In den frühen 30iger Jahren wird die ISS also im Weltraum auseinandergebaut. Viele Module können weiter verwendet werden, an manchen aber hat der Zahn der Zeit so genagt, dass man sie stilllegen muss.
Ein großer Teil der ursprünglichen Raumstation bleibt übrig. Um sie zu „entsorgen“ gibt es mehrere Möglichkeiten. Die eine besteht darin, in einer aufwendigen Aktion, die viel Treibstoff, Organisation und Kosten in immenser Höhe verursachen würde, die nicht mehr brauchbaren Komponenten gezielt über dem Südpazifik zum Absturz zu bringen. Der größte Teil würde dabei verglühen, einiges würde den Rücksturz zur Erde aber überstehen und tausende von Metern tief im Pazifik versinken.
Diese Möglichkeit wird heute viel diskutiert. Ich glaube aber nicht daran. Wenn man die Teile der ISS unbedingt entsorgen will kann man sie mit einigen wenigen Flügen des Starships von SpaceX abholen, zur Erde bringen und ins Museum stellen.
Die andere Möglichkeit ist viel schöner, organisatorisch einfacher und vor allem viel, viel billiger. Die bestünde darin, die ISS auf eine höhere Umlaufbahn zu schieben, vielleicht 1.000 Kilometer hoch, aber noch unterhalb der Strahlungsgürtel der Erde. Dort erklärt man sie zum Weltkulturerbe. Als Besichtigungspunkt für spätere Touristen und Historiker. In dieser Höhe bliebe die Bahn der ISS für viele Jahrzehnte stabil, ohne dass große Investitionen an Treibstoff und Antriebsinfrastruktur nötig sind. Man könnte einen solchen Orbit als die 100-Jahresbahn bezeichnen. Alle fünf bis zehn Jahre würde ein geringer Schub eines chemischen Antriebsmoduls genügen, um diese Bahn stabil zu halten. Oder ein preiswertes elektrisches Antriebssystem schiebt es mit gelegentlichen langdauernden, schwachen Schüben wieder die paar Kilometer an Höhe zurück, die sie im Laufe der Jahre verlieren mag. Dort verbleibt sie dann als im wahrsten Sinne des Wortes leuchtendes Symbol für den Abschluss der ersten Phase der bemannten Raumfahrt und den Beginn des nächsten Schrittes, der Nutzung des