Die Narrentour der Liebe. Robert Heymann
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Robert Heymann
Die Narrentour der Liebe
Roman
Saga
Die Narrentour der Liebe
© 1924 Robert Heymann
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711503638
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Er hiess Johannes und war Pierrot. Wenn er allabendlich im Zirkus auf der Münchner Theresienwiese zwischen den zwei Attraktionsnummern: der blonden polnischen Kunstreiterin und dem grossen Dressurakt, auf dem Drahtseil seine halsbrecherischen Spässe machte, wenn er zur Laute sang, lachte, heulte und weinte, dann gelang es ihm an manchen Abenden, weniger durch seine Künstlerstücke als durch den Zauber seiner Persönlichkeit, das Publikum bis zur Raserei aufzustacheln.
Und in der Tat war Johannes oder Jean, wie er sich nannte, der Pierrot, kein schlechterer Hanswurst wie sein berühmter Lehrer Gaspard Debureau, und hätte Theophile Gautier ihn noch gesehen, so würde er auch von ihm gesagt haben, dass er, obgleich nur ein Harlekin, doch der vollkommenste Schauspieler sei, den er je kennengelernt.
Jean war nicht nur Drahtseilkünstler; indem er sich für seine Person kleine pantomimistische Szenen ausdachte, in denen er alsbald einige Statisten als Helfershelfer verwendete, erhob er eine schon halb abgetane und verachtete Fertigkeit zu einer wahrhaftigen künstlerischen Bedeutung und wurde, ohne es selbst zu ahnen, ein Meister des artistischen Stils, der allerdings erst für die grosse Öffentlichkeit noch entdeckt werden musste.
Jean hätte längst sein Engagement an diesem primitiven Wanderzirkus, wo man ihn schlecht bezahlte und seine Existenz stets eine fragwürdige blieb, gegen glänzende Stellungen an Varietés oder einem der ersten Schauunternehmungen des Kontinents vertauschen können, wenn er die Fähigkeit besessen hätte, auch als Mensch etwas aus sich zu machen. Doch furchtsam gegen das Leben, das er täglich auf seinem Drahtseil verspottete, indem er den Tod herausforderte, war er zu sehr Harlekin um sich von einer Leidenschaft zu befreien, die ihn seit dem ersten Auftreten der kleinen Choristin Mie ergriffen. Mie hiess eigentlich Marie und entstammte der Vorstadt. Sie fiel kaum auf in dem Schwarm junger und leidlich hübscher Mädchen, die die Not zusammengewürfelt hatte und die Abend für Abend als Prinzessinnen oder Feen in schillerndem Flitter die lebendige Staffage für die märchenhafte Handlung eines Ausstattungsstückes bildeten. Alle Versuche des Pierrot sich Mie mit Erfolg zu nähern, waren bis jetzt vergeblich gewesen. Sie betrachtete ihn mit derselben misstrauischen Scheu, mit der ihre grossen und frühkranken Kinderaugen alles in der Welt beobachteten, und sicherlich gehörte sie zu denen, von welchen der Stallmeister Lumière, der eigentlich Meier hiess, behauptete, man müsste sie nehmen, wie man Margueriten oder Schmalzblumen pflückt, ohne lange zu fragen.
Pierrot brachte das nicht über sich. Er verehrte sie mehrere Wochen zum nicht geringen Vergnügen der Stallknechte, die sich dieses unreifen Kindes wegen noch nicht einmal die Mühe einer kleinen Anstrengung machen wollten.
Eines Tages aber begab es sich, dass Mie von ihrem dem Trunk ergebenen Vater aus dem Hause gejagt wurde und allein in den Strassen Münchens herumirrte, ohne ein Obdach zu finden. Die Vorstellung des Zirkus war schon gegen elf zu Ende, Mie aber trieb sich noch um ein Uhr in der belebten Nähe des Bahnhofs umher, ohne die Gefahr zu ahnen, in der sie schwebte. Sie floh instinktiv vor allen rohen und lüsternen Scherzworten, mit kindlicher Gelenkigkeit den Fangarmen des Lasters entgleitend, das in den hell beleuchteten Strassen geschäftig seine Netze auswarf.
Vielleicht wäre dieser Abend verhängnisvoll für Mies späteres Leben geworden, wenn sie nicht jedem Schutzmann schon von weitem aus dem Wege gegangen wäre. Dies geschah ohne sichere Absicht und rein aus Gewohnheit. Denn in jener dunklen Welt, aus der sie, wie die Motte zum Licht zu einem trügerischen Glanze aufgekrochen war, galt alles, was aus dem anderen Leben jenseits des Flusses kam, als feindlich und hassenswert, oder, je nachdem die Machtverhältnisse verteilt waren, als gefährlich.
Dieses nämlich war Mies Heimat: irgendwo ein finsterer, lauernder Winkel, eine unheimliche, atembeklemmende Nacht, ein brütendes Chaos von Finsternis, ein Abgrund, der nie ergründet werden wird. Es genügt nicht, zu sagen: dort wohnt die Armut; oder von dort kommt das Laster. Dort sammeln sich die gärenden Säfte, die wie feurige Kometen durch die undurchsichtbare Dunkelheit kreisen, diese Purpurfäden, die sich ewiglich von der Spindel eines ungeheuerlichen Hasses lösen und die dieser Winkel eines Tages ausspeit, dass sich das zündende Garn als brennende Wolke über den Himmel ergiesst, um als Blutregen auf die Erde niederzugehen.
Dieses zusammen: Armut und Gier, lauernde Wildheit, träger Stumpfsinn, lüsterner Vernichtungstrieb und eine stammelnde Sehnsucht nach einem Zipfel des verlorenen Paradieses, all dies zusammen ist die Vorstadt.
Dort sammeln sich die Revolutionen, ehe sie marschieren. Von dort aus gleiten wie Irrlichter, die aus dem Sumpf steigen, die in Liebeshass und Rausch gezeugten, mit Sumpfgas und brennender Brunst gesättigten Lusttiere derer, die im Lichte leben.
Das ist nicht die Vorstadt, was wir sehen: die sinnenden, nickenden kleinen Häuser mit den blinzelnden Fensterscheiben, über denen der Mond in stiller Winternacht steht oder ein blassblauer Sommerhimmel sich spannt. Diese roten Fensterscheiben sind lauernde, giftige Augen, die sich suchend in die Nacht bohren und Laster speien. Und die engen, schmutzigen Gassen sind wie die Eingeweide eines schwangeren Bauches, der plötzlich aufspritzt und Vernichtung in das abgezirkelte Gebilde der Sattheit und Vornehmheit jenseits des Flusses schleudert. —
Mie fühlte sich mit der Vorstadt wenig verwachsen. Sie sehnte sich keineswegs nach dieser Heimat, aus der sie der Vater ausgestossen. Sie schlich einfach mit ihrem primitiven Selbsterhaltungstrieb in den Gassen des Bahnhofsviertels umher, als ihr in der engen Schillerstrasse ein hagerer Mensch in einem schwarzen Mantel begegnete, der für sein Alter merkwürdig eckige und müde Bewegungen hatte.
Er tat weder verwundert noch erschrocken, als er Mie ganz gegen alles Erwarten hier in der Stadt traf. Er fragte nur:
„Wie kommst du denn hierher, Kleine?“
„Ich habe keine Wohnung,“ erwiderte sie ziemlich gleichmütig.
„Ah, das ist fatal.“
Sie lächelte gedankenlos. „Es ist schlimm. Denn ich bin hungrig und schläfrig.“
„Aber du kannst doch nicht die Nacht hier aussen bleiben!“
Sie schwieg. Er atmete schwer. Sie wusste nicht, wie es kam, dass er ihr plötzlich viel jünger erschien als sonst.
„Willst du zu mir heraufkommen?“
Sie nickte. Sie dachte sich nichts dabei; sie hätte sich vermutlich auch nichts gedacht, wenn er sie noch mehr gefragt hätte.
Er blickte in ihre Augen. In der Dunkelheit und unter dem grauen Schal schimmerten sie wie zwei helle Sterne.
„Komm,“ sagte er kurz und heiser.
Der veränderte Ton, sein Wesen stimmten sie nachdenklich. Aber sie folgte willig in das dunkle Haus und wartete fröstelnd in der Finsternis, bis er ein Streichholz entzündet hatte, um ihr den Weg zu weisen. Sie gingen durch einen stillen Hof und dann über knarrende Treppen.
Er hatte ein seltsames Lächeln aufgesetzt.
Er öffnete irgendeine Türe und bedeutete Mie, leise zu gehen. Sie traten in ein dunkles Zimmer mit allerhand Kram, wie Mie meinte: Muttergottesbilder und Kränze und Blumen und nackte Frauengestalten, die lüstern aus dunklen Teppichen und zarten Schleiern hervortraten. Sie dachte bei sich, was für