Die Narrentour der Liebe. Robert Heymann
das kalte Sofa nieder und sah zu Boden. Jetzt erst kam ihr zum Bewusstsein, dass sie mit einem Manne allein in einem fremden Zimmer war. Pierrot entzündete die Lampe.
Nun nahmen die Dinge einen wärmeren Ton an. In dem halbblinden Spiegel zeichnete sich der Schatten Harlekins ab. Er konnte sich auch im gewöhnlichen Leben nicht von jenen ruckweisen und bizarren Bewegungen befreien, die das Publikum im Zirkus zum Lachen reizten, weil sie voll tragischer Gesten steckten.
„Du bist hungrig, Kleine?“ fragte er mit einer Stimme, die wie eingerostet klang.
„Ja. Ich bin hungrig.“
Er trat an den Ofen, machte Feuer und setzte den Tee auf. Dann holte er, ohne weiter etwas zu sagen, Aufschnitt und eine Flasche Wein.
Mie beobachtete ihn verstohlen. Sie empfand Dankbarkeit. Seine Geschäftigkeit ihretwegen rührte sie.
Pierrot war endlich mit seinen Vorbereitungen zu Ende und deckte den wackligen Tisch.
„Nun iss, Kleine,“ sagte er, wie man zu einem Kinde spricht. Dabei war er zärtlich um Mie bemüht. Er legte ihr den eigenen Mantel um die Schultern, denn es war kalt, das spärliche Feuer konnte das Zimmer nicht gleich durchwärmen. Durch das halbverhängte Fenster sah man den Schnee von dem gegenüberliegenden Hausdach herüberschimmern.
Mie ass und lauschte dabei heimlich in sich hinein. Da regte sich etwas Seltsames. Ihr wurde warm. Die Zärtlichkeit des Harlekins heizte ihr armes, kaltes Herz, das bis dahin nur Hässliches und Bitteres erfahren, und liess eine schwache Glut aufglimmen, die rasch um sich griff.
Ihre Wangen wurden rot, und sie begann freudig und aufgeregt zu sprechen.
Es ist der Wein, dachte Harlekin und versenkte sich völlig in den Anblick des unschuldigen Kindes, das mit glänzenden Augen erzählte. Von der um kargen Lohn schaffenden Mutter, dem Vater, der sich eine Geliebte hielt, und den die Mutter früher oder später auch hinausjagen würde, wie er sie verstossen. Von den Brüdern und ihren schlimmen Reden, ihren roten Hoffnungen und ihrer Kraft.
„Es ist so enge bei uns draussen in der Au. Die Gänse und Enten laufen dort in den Strassen umher und nehmen Bäder in dem schmalen Mühlbach. Die Häuser sind so klein, dass ein grosser Mann beinahe in den ersten Stock schauen kann. Aber es ist warm und gemütlich bei uns. Der kleine Ofen, die Kommode und die Betten füllen jeden Raum so völlig aus, dass für nichts anderes mehr ein Winkel übrigbleibt. Und wenn der Winter kommt, dann klebt Mutter die Fenster mit dickem Packpapier zu, so dass die Wärme bis zum Frühling nicht aus dem Zimmer kam. — Es ist schön zu Hause ...“
Sie war schläfrig und lächelte müde.
„Es ist die Heimat,“ murmelte der Harlekin. Er zündete sich eine Zigarette an und sah eine Weile schweigend vor sich hin. Sein glatt rasiertes Gesicht zeigte schiefe Falten. Er sah alt aus. Er dachte an eine gute Bürgerstube im Norden, einen grauköpfigen Mann mit vielen Furchen und Falten und einem von der Last der Ergebung unter das Herkommen gebeugten Rücken. Und an eine alte Mutter, die sich blind weinte um den verstossenen Sohn, der Akten schreiben und als anständiger Mensch hätte leben sollen, aber über Nacht davonlief, weil ihn das Heimweh packte. Das Heimweh nach einer grossen, weiten Heimat.
„Mich friert,“ sagte Mie und blickte ihn herausfordernd an. Etwas Drängendes war in ihr. Sie hatte das Verlangen, sich anzuschmiegen und Wärme zu fühlen.
Er näherte sich ihr schüchtern und setzte sich neben sie. Sie lachte scheu und unbeholfen und drückte sich an ihn.
Die Wärme ihres jungen, frischen Körpers berauschte ihn. Er schlang die Arme um sie und zog sie an sich. Eine dunkle Sehnsucht pochte von einem zum andern und lockte im Blut.
„Du solltest nicht so einsam sein,“ sagte Pierrot, um etwas zu sagen, und sie nickte, weil sie keine andere Antwort darauf wusste.
„Ich würde ... ich möchte gerne ... dir etwas sein ... dich schützen ... dich bewahren ... denn ich liebe dich.“
Sie horchte auf und dachte nach.
Liebe ... und horchte nach innen auf einen seltsamen Glanz, der da tönend aufbrach. Sie schlang die Arme um ihn und schmiegte sich schnurrend wie eine Katze an seine Brust. Es konnte nicht anders sein, denn sie tat es, ohne sich dessen bewusst zu werden.
„Ich habe dich lieb,“ wiederholte er.
Sie fühlte, dass es so war. Ein Glückschauer durchrieselte den jungen Leib, dem das Laster nichts von der naiven Reinheit der Unschuld hatte nehmen können.
Er stammelte viel und sprach wie ein leise hinmurmelnder Bach.
Sie lauschte und trank die Worte und wurde bleich vor Erwartung, aber sie sagte nichts, als er sie in die Arme nahm, sie bebte nur.
Da fiel sein Blick zufällig auf die Madonnen und die nackten Weiber an der Wand, und er stand so schnell auf, dass Mie beinahe zu Boden stürzte.
„Es ist spät.“
Sie sah ihn verlegen an und wusste nicht, was sie tun und sagen sollte.
„Es ist Zeit, dass du dich zur Ruhe begibst, Mie.“
Sie nickte gehorsam.
„Ich werde auf dem Teppich schlafen und dir mein Bett abtreten.“
„Warum willst du nicht bei mir schlafen?“
Er sah sie erschrocken an, wie einer, dem vor einem Altar das Allerheiligste bricht. Aber in ihren kindlichen Zügen stand nichts zu lesen als eine stille, klare, unbewusste Liebe.
Da er nicht antwortete, suchte sie nach einem Winkel, in dem sie sich, bis sie entkleidet war, verkriechen konnte. Aber dieser enge Raum bot keine verschwiegene Ecke.
„Ich werde mich umdrehen, bis du so weit bist,“ sagte Harlekin und machte sich am Tisch, mit dem Rücken gegen das Bett gewandt, zu schaffen.
Da entkleidete sie sich schnell, streifte die fadenscheinigen Röcke und die Strümpfe mit vorsichtigen Händen von den Gliedern, damit kein Rascheln an sein Ohr dringen sollte.
Denn nun schämte sie sich.
Schliesslich glitt sie ins Bett.
Mit einem Wohlgefühl ohnegleichen schlüpfte sie in die ungewohnten Daunen und zog das Linnen bis zum Kinn.
Pierrot wandte sich langsam um. Er war bleich. Das leise Raunen der Röcke, das Rascheln der Kissen hatte ihn fieberhaft erregt. Der Atem stockte ihm und eine bleierne Schwere lag in seinen Gliedern. Er trat an ihr Bett. Sie legte die weichen Arme, die herbe und eckig wie die eines Knaben waren, plötzlich um seinen Hals.
„Du ... du ...,“ stammelte sie und umschlang ihn. Der Duft ihres Körpers warb in seinen Sinnen. Es war ein weicher, süsser Odem wie von reifen Pfirsichen.
Ihre Augen schimmerten matt, aber durch den Schleier der Müdigkeit brannte ein seltsam helles Licht. Seine Pulse hämmerten. Er hob sie aus den Kissen und presste sie an seine schmale Brust.
„Ich hab dich lieb, du ...“
Da krallte eine wilde Angst sich in ihr Herz. Sie bäumte sich hoch und schrie leise auf, am ganzen Körper zitternd, bebend vor Furcht und doch willenlos verfallen.
Von einer atemlosen Hingabe erfasst, stammelte sie noch etwas, einen Hauch der Sehnsucht, der Liebe ...
„Nein, nein, nein,“ sagte Harlekin mit dem begütigenden Tone, den man gegen ein Kind anwendet. „Nein, nein ...“
Und so schliefen sie ein.
Harlekin sass still und litt und wachte über ihren Schlaf. Mie fühlte seine Nähe und atmete das Glück seines Besitzes. Und während sie leise schlief, vollzog sie im Traume ihre Vereinigung mit Pierrot, obgleich sie bis jetzt weder das Wesen der Liebe kennengelernt noch die Keuschheit ihres Leibes eingebüsst hatte.
Es war Johannes unmöglich, Mie zu berühren. Dieser Artist, der seine kranke Sehnsucht zwischen Heiligenbildern und Legenden von Correggio, Fra Bartolommeo und Schwind, zwischen weichen, schimmernden und