Wir. Judith Kohlenberger

Wir - Judith Kohlenberger


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Einer hat am Wochenende Kinderbetreuungspflichten und fällt deshalb immer genau dann aus, wenn die anderen in den Endspurt gehen. Wie gehen wir damit um, wenn bei der Endpräsentation alle vorne stehen wollen, es aber nur Platz für drei von uns gibt? Wer darf, wer muss das letzte Wort haben? Wessen Stimme hat wie viel Gewicht; und darf die teilzeitarbeitende Kollegin genauso viel mitbestimmen wie der Kollege, der abends als Letzter das Büro verlässt, oder nur so viel wie die Praktikantin?

      Die Erarbeitung des Wir (denn ja, es ist Arbeit) ist also nicht einfach, bequem oder selbsterfüllend, sondern häufig das genaue Gegenteil. Das gilt nicht für ein Wir-Gefühl in der Mannschaft oder im Fußballverein, sondern auch für die großen Wirs dieser Welt, allen voran jene der Nation. „Das demokratische ‚Wir‘ ist keine Tatsache, die man einfach so konstatieren kann, sondern ein anstrengender Prozess, bei dem Zugehörigkeit immer wieder neu ausgehandelt und erstritten wird“, wie es der deutsche Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller in seinem Essay „Was ist Populismus?“ formuliert.5

      Dafür gibt es zahlreiche historische Beispiele, allen voran die Tatsache, wie sich unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen nach und nach ihre politische Teilhabe in Form des Wahlrechts erstritten haben. Demokratisch betrachtet waren Frauen noch vor hundert Jahren nicht Teil des Wir, zumindest nicht Teil des Wahlvolks und damit des Souveräns. Heute vollziehen sich, wenn auch langsam und unter großer Anstrengung, weitere Debatten um die Öffnung des Wahlrechts, etwa für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung oder Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft. Ähnlich wie Suffragetten beim Kampf um die Erweiterung des Wir ins Gefängnis oder gar ums Leben kamen, demonstrierten im Arabischen Frühling unterdrückte, rechtlose und von Armut betroffene Bürger*innen für mehr Mitbestimmung, gegen Korruption und für Schutz vor einem repressiven Sicherheitsapparat.

      Das gemeinsame Wir wird also aus Streit, Debatte und Auseinandersetzung geboren, wer es pathetisch mag: aus Blut, Schweiß und Tränen. Diese Geburt des Wir ist nicht final, sondern vielmehr ein stetiger, lang andauernder, äußerst dynamischer Prozess. Ein Prozess, der gar nie abgeschlossen sein kann, eben weil immer neue Gruppen ins Wir drängen, während es andere gibt, die sich ob dieses Hineindrängens bedroht fühlen und es zu verhindern suchen. So war etwa die Frage „Gehört der Islam zu Österreich?“ noch vor fünfzig Jahren unvorstellbar; mittlerweile trauen sich selbst Politiker*innen rechts der Mitte immer weniger, die Frage absolut zu verneinen. In relativ kurzer Zeit hat sich die Konzeption des Wir also ziemlich radikal verändert, und sie tut es weiterhin. Die neuen und die neu hinzukommenden Teile des Wir sind im stetigen Austausch, vom vorsichtigen ersten Beschnuppern bis hin zur offenen Konfrontation. Vielleicht führt uns das zu einer neuen, auf den ersten Blick wenig optimistisch stimmenden Definition: Das Wir ist ein ständiger Streit, den wir aushalten müssen (siehe Kapitel Wachstumsschmerzen aushalten, S. 45).

      Aber vergessen wir nicht die produktive Seite von Streit, Konflikt und Auseinandersetzung, die ich persönlich, selbst als gelernte Österreicherin, viel mehr schätze als andauernde, vermeintliche, schale Harmonie. Dabei sind uns vielleicht die privaten Wir-Gefühle näher als das nationale, demokratische Wir. Wer nicht im sozialen Vakuum lebt, weiß, dass jede Familie, jede Paarbeziehung, jede Freundschaft auf ständigem Ausverhandeln beruht, dass sich die Qualität einer privaten Beziehung erst dadurch zeigt, wie offen wir Konflikte thematisieren. Das raten uns nicht nur zertifizierte Paartherapeut*innen und Psycholog*innen, das haben die meisten von uns schon am eigenen Leib erfahren. Nur Beziehungen, in denen die absolute Gleichgültigkeit Einzug gehalten hat, sind konfliktfreie Beziehungen. So mühsam unsere negativen Gefühle wie Eifersucht, Wut oder Traurigkeit sind, so deutlich führen sie uns auch vor Augen, dass uns das Gegenüber, welches diese Gefühle auslöst, nicht egal ist. Eben weil wir noch immer Teil eines gemeinsamen Wir sind und deshalb Anteil daran nehmen, wie es einem anderen Teil dieses Wir mit uns geht. Dauernde Harmonie macht nämlich kein besseres, inklusiveres, gleichberechtigteres Wir, sondern höchstens Magendruck.

      Wie in jeder zwischenmenschlichen Beziehung Streit immer auch ein Ausdruck für emotionales Investment in ebendiese ist und das Gegenteil von Teilnahmslosigkeit darstellt, so können in einem affirmativen Verständnis gesellschaftliche Konflikte, Reibungen und Debatten als Ausdruck der genuinen Anteilnahme am Gemeinwesen gelesen werden. Die gesellschaftliche wie politische Situation, ob national oder global, ist vielen eben nicht (mehr) egal; etwas Wichtiges, Fundamentales steht auf dem Spiel, auch deshalb, weil heute mehr soziale Gruppen denn je a stake in the game haben und ihre Stimmen einbringen können. Nun gilt es, dieses offenkundige emotionale Investment auch tatsächlich als etwas Positives, Produktives zu begreifen und sein Potenzial für ein gestärktes Wir zu nutzen.

      Der erste Schritt zum produktiven Streit ist die Reflexion: Sich selbst zu kennen und die eigene Position ehrlich und ungeschönt wahrzunehmen, ist notwendig, bevor man sich dem Gemeinsamen zuwendet. Dazu gehört auch zu verstehen, inwiefern wir alle durch Zugehörigkeit zu ganz unterschiedlichen Wirs Tag für Tag profitieren, ohne es zu wollen oder gar zu bemerken.

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