Der Gang durch das Ried. Elisabeth Langgässer

Der Gang durch das Ried - Elisabeth Langgässer


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Oberlippe empor, als ob da ein Bärtchen säße, und wußte im nämlichen Augenblick, daß dies Jean-Marie Aladin war; verbarg wie ein Dieb die Hände und nahm sie erst, als er allein war, vorsichtig wieder heraus. Die Nägel waren abgebissen und bläulich unterlaufen, was ihnen ein merkwürdig stumpfes und totes Aussehen gab; auf dem Handrücken traten die Adern hervor, obwohl das ganze Gebilde eher fleischig als mager war, und der Daumenballen hob sich sehr feist aus dem mageren Handteller auf, der eine Kräutersuppe von Wurzelwerk, wilden Lianen und dürren Linien enthielt, die sämtlich abgebrochen und unvermittelt am Ende schienen. Diese Hände gehörten ihm nicht, er wußte es untrüglich, obwohl er sie niemals vorher mit Bewußtsein betrachtet hatte, doch wiederum waren sie ihm auch nicht fremd und schlugen ihm jede das Bilderbuch ihrer Herkunft und Geschichte auf: Die Narbe da – plötzlich sah er sich auf einer Steintreppe sitzen, die in ein Gasthaus führte, aus welchem Geruch von Most und frischen Walnüssen kam, Geklapper von Würfelbechern. Ein Busch aus Espenzweigen, von bunten Bändern geschnürt, hing über seinem Scheitel, oh wie hoch, wie weit, oder war er damals besonders klein gewesen, ein winziger Bursche noch; ja richtig, so mußte es sein. Aus der Tür trat nachher ein Mann und spielte schaurig mit ihm, hielt ihm ein Messer vor und tat es rasch wieder weg, bis endlich das Kind die Schneide faßte und sich quer durch das Händchen zog. Blut, Silberblitz nasser Blätter, die spiegelhell flatterten, Geschmack von zuckrigem Wein und salzigen Knabentränen rann augenblicklich zusammen und schwemmte das Bild wieder fort . . . Hier jene Fingerkuppe, die halb verstümmelt war: von neuem erschien der Mann, je, je, natürlich der Vater war es, dem er zitternd ein Hühnchen festhielt, das umgebracht werden sollte. Das Hackmesser fiel zu kurz und hieb ihm in den Daumen, dessen Nagel niemals mehr die rechte Form gewann. . . Aber dies, er lächelte schön, dies nelkenrote Grübchen inmitten der Tellermulde, welches tiefer als alle anderen Zeichen und unterdünnerer Haut lag, war die Stelle, wo seine Mutter, ein Kinderverschen brummend, ihr Bübchen manchmal gekrault und dumpf getröstet hatte . . .

      Der Mann hob seinen Tornister an, dessen Riemen im langen Sitzen sich eingeschnitten hatten, und starrte über die Ebene mit den Dämmerstreifen der Nadelhölzer nach der schwimmenden Bergstraße hin. Dort mußte der Regen nachgelassen haben; zerfetzte Nebelschwaden wallten in unaufhörlicher Verwandlung herunter, und feucht verhangenes Licht legte sich abschiednehmend über die Gipfel. Hier unten aber rauschte, prasselte und schäumte das unersättliche Wasser noch immer, drang dem Mann zwischen Jacke und Waffenrock bis auf die Rückenhaut und preßte sich bei jedem Schritt glucksend und schwappend in seine geschnürten Schuhe. Nach einem Unterschlupf suchend, fing er zu laufen an. Er kam an Vorratshäusern vorüber, deren eisenbeschlagene Tore mit Hängeschlössern versehen und eingequollen waren; die zerbrochenen Fenster dagegen standen gleichgültig allem offen, und Spinnwebnetze hingen vor dem Dunkel, das von Balken durchzogen wurde, zwischen denen ein Heubüschel wehte, ein Kornhalm oder ein Strohwisch, der dem frierenden Wanderer vorkam wie der verlassene Rest an dem Spinnrocken jenes Schicksals, das plötzlich abgerissen, doch noch lange nicht verwunden und eingewoben war. Die andere Straßenseite liefeine rohe Reihe von Mannschaftsaborten her, dann kamen einige Häuser, die gut erhalten waren: Schreibstuben, Unterrichts- und Schalterräume bergend, hierauf zerstreute Villen und etwas weiter zurück das hölzerne Oflizierskasino, das unter großen Kiefern auf erhöhtem Gelände lag.

      Eine Treppe führte hinan, und als der Fremdling den Fuß auf sie setzte, fiel eine faulende Stufe krachend in sich zusammen. Er rutschte, kollerte abwärts und kletterte aufs neue den glatten Nadelboden unter leisem Schimpfen empor, stieß mit Gewalt eine Tür zurück, die allzu rasch nachgab, anschlug und ihn wiederum fluchen machte, und befand sich in dem Gesellschaftszimmer des Offizierskasinos. Sofort war das Lustgefühl des leeren Raumes da. Einen Krampf auf den Nägeln verbeißend, blieb der Mann an dem Eingang stehen und schaute im Saal umher. Die Vorhänge waren abgenommen, doch hing eine Samtportiere, von Fliegenschmutz, Staub und Alter ergraut, vor der Tür zum hinteren Zimmer, das ihm, als er sie lüftete, einen Schanktisch und Hirschgeweihe, die gespenstig von fleckigen Wänden drohten, im schwefligen Spätlichte wies. In der Mitte des vorderen Raumes stand der Billardtisch, dessen grüner Bezug an den Rändern zerrissen war. Darauf befand sich noch eine Kugel, die neben dem langen Stock wie ein Totenköpfchen lag, das vom Halswirbel abgefallen und blankgescheuert ist. Der Mann griff begierig zu, faßte an und zielte und stieß; die Kugel rollte unhörbar und schlug an dem Tischbord an, klung, klung, wie wenn ein Stein hinab in den Brunnen fällt. Doch war dies schon mehr an Antwort, als der Fremdling ertragen konnte. Er warf den Billardstock fort, preßte die Hände fest an seine erschrockenen Ohren und sang mit schallender Stimme, die von den leeren Wänden zurückgeworfen wurde, ein Kinderlied vor sich hin:

      »Au claire de la lune,

      mon ami Pierrot . . .«

      einen Augenblick hielt er an sich und schrie dann schluchzend hinaus: »Pierrot! Pierrot! Pierrot!« hierauf, sich langsam beruhigend:

      »prêtez-moi ta plume,

      pour écrire un mot . . .«

      die Strophe endete hier, und der Mann wiederholte langsam: »pour écrire un mot«, er hob den Kopf, nahm die Hände und wölbte sie hinter den Ohren, wie ein Schwerhöriger tut, der angestrengt lauschen muß. »Hé? s’il vous plait? « fragte er dann in ekelhaftem Diskant. Es war fürchterlich lange still. Regen und Sturm hatten nachgelassen; die Natur verhielt ihre Kräfte, redete nicht, murmelte nicht, flüsterte nicht, tröstete nicht. Eine weiße, gräßliche Leere schwoll blasengleich um ihn an ... er wich mit gespreizten Fingern bis an den Vorhang zurück – da dröhnte Schlag um Schlag. Das Gelände war von Donner erfüllt, der irgendwoher kam und ohne Ursache schien. . . Wie von Ochsenhörnern gestoßen, fuhr Aladin schreiend empor, lief aus der Tür, den Grashang herunter, überstürzte sich, stolperte, fiel, raffte sich wieder auf und floh vor der Tuba der Erde, die ihn gerettet hatte. Schlag. Schlag. Schlag. Der Boden erinnerte sich, die Lüfte zitterten und wiederholten gehorsam den oft vernommenen Schall. Hatten Krähen oder Dohlen übersehene Blindgänger aufgehämmert? War ein Wagen darüber gefahren? Oder hing das Gedächtnis der Vorzeit noch immer wie eine Glocke in dieser Satanskirche und brauchte nur leise berührt zu werden, um schrecklich anzuschlagen? Vielleicht verhielt es sich wirklich so, denn Aladin allein schien die Töne wahrzunehmen. Im raschen Vorüberstürzen sah er den kleinen Karren zweier Holzleser wartend am Wege stehen; einen Steinwurf weiter sammelten die Leute schweigend und versunken die Reiser auf, welche der Sturm vorhergegangener Nächte in Scharen herabgepeitscht hatte. Die Waldschneisen dampften von Feuchtigkeit und waren dunkle Schlünde, voller Lemurenspuk, voll widerlicher Gestalten, die sich vereinigten, lösten und in die Baumwipfel wogten, die leise brandeten . . .

      Der Mann bog eilends nach Westen ab und lief jetzt auf den Pfaden, die noch vor wenigen Jahren von Patrouillen gewimmelt hatten, von übenden Kompanien, deren flinke Maschinengewehre hier ausgerichtet waren, um das blutige Handwerk des Krieges als Kinderschreck weiterzutreiben. Wenn scharf geschossen wurde und auf dem großen Sande der Fesselballon sich blähte, fingen Schieber und Heimwehsüchtige an, sich auf die Socken zu machen, und brachten Herz oder Ware: Kartoffeln, Feldgemüse, französische Seife und Weißbrot unter Lebensgefahr über die Grenze. Eine Frau war damals erschossen worden und tappte hernach noch lange, das Zwiebelnetz über dem Rücken, des Nachts im Walde umher. Wer ihr begegnete, wurde hart bedrängt und gezwungen, das Grenzschild umzuwerfen, wo, schwarz auf weißem Grunde, die fremden Worte standen: »limite, zone occupée«. Jean-Marie Aladin war damals schon auf dem Lager gewesen und entsann sich jetzt auch der Geschichte: daß ihr ein junger Franzose diesen Liebesdienst sollte verweigert haben. Den zog sie auf ihre Knie und drückte ihn, daß ihm die Luft verging, biß ihm die Lippen entzwei und versengte mit feurigen Fingern sein schwarzgekraustes Haar. Als es dämmerte, ließ sie ihn los. Er kroch auf seinen Posten zurück und beschoß, als er abgelöst wurde, die eigenen Kameraden. Mit Mühe banden sie ihn und schleppten ihn zum Lager, wo sein Genick sich nach hinten zog und er in Fieberkrämpfe und Zuckungen verfiel, dabei wieder und wieder erzählend, wie die Frau ihn auf ihren Schoß gehoben und zärtlich gemartert habe. Am Ende verklärte er sich und verschied mit jenem Ausdruck, den ganz kleine Säuglinge haben, wenn sie beim Trinken sind. Der Feldscher hatte freilich behauptet, er sei an einer Schenkelwunde, die er sich bei den Übungen zugezogen hatte, gestorben. Es war Erde hereingekommen und hatte Starrkrampf verursacht – nun, so oder so: ihre Rache hatte ihn heimgesucht und mit ihm die ganze Besatzung erschreckt, die


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