Nur ein kleiner Verdacht. Sabine Howe
Maggie hatte Eva nie gemocht. Sie war irgendwie undurchsichtig. Nach der Scheidung war sie fünfhundert Kilometer weit weg in die Schweiz gezogen, wo sie jetzt Paare therapierte, indem sie tagelang mit ihnen wanderte und irgendwelche Hütten aus Reisig baute. Anne war das Gegenteil von Eva: offen, herzlich, verbindlich. Die beiden Frauen hatten sich auf Anhieb gemocht, und der Altersunterschied von über zwanzig Jahren hatte nie eine Rolle gespielt. Anne war auch Architektin und inzwischen fast erfolgreicher als ihr Mann, der ohnehin nur noch zeitweise arbeitete. Maggie bewunderte Annes Tatkraft und ihre Unabhängigkeit. Aber andererseits hatte Anne keine Kinder. In Maggies Augen eine Grundvoraussetzung für eine Frau, um einen Beruf erfolgreich auszuüben. Maggie hatte nach dem Krieg Schreibmaschine und Stenografie gelernt. In der DDR hatte sie im Sekretariat eines Chemielabors gearbeitet, später im Westen hatte Dr. Steinbrecher sie eingestellt, ein Anwalt für Schadenersatzansprüche. Dr. Steinbrecher war nicht verheiratet und machte keinen Hehl daraus, dass er etwas für Maggie empfand. Das machte Karl rasend. Eines Tages kam er überraschend mit einem Strauß Margeriten in die Kanzlei. Er grinste, küsste Maggie in den Nacken, schaltete das kleine Radio auf ihrem Schreibtisch ein, nahm sie bei der Hand und forderte sie zum Tanz auf.
„Dr. Steinbrecher!“, rief er. „Kommen Sie aus Ihrer muffigen Bude und werfen Sie einen letzten Blick auf diese Kostbarkeit, die Sie nie besitzen werden.“
Die Tür ging auf.
„Das hier ist nämlich meine Frau, falls Ihnen da etwas entgangen ist. Und die kündigt heute! Fristlos!“
Dr. Steinbrecher sah erst Karl, dann Maggie und dann wieder Karl an. Auch Maggie verstand nichts.
„Das war heute dein letzter Arbeitstag“, jubelte Karl.
„Befördert. Ich bin befördert worden. Du bist jetzt die Frau eines Abteilungsleiters, und die braucht nicht mehr zu arbeiten! Nimm deine Jacke, und dann nichts wie weg hier.“
Karl nahm sie bei der Hand und zog sie aus dem Büro. Maggie durchströmte es heute noch warm, wenn sie an diesen Moment dachte.
Danach nahmen die Dinge ihren Lauf. Erst kam Susanne, und zwei Jahre später Andrea.
„Was duftet denn hier so köstlich?“, fragte Anne, als sie die Küche betrat. Sie lüftete den Topfdeckel.
„Oh mein Gott, Maggie, du übertriffst dich mal wieder selbst. Osso buco – mein Leibgericht!“
Einen winzigen Moment durchfuhr es Maggie, aber das war Unsinn. Anne hatte schwarzes Haar.
„Mit Steinpilzrisotto. Dazu Tomatensalat mit Mozzarella. Und anschließend Zabaione.“
„Lust auf Italien?“
„Keine Ahnung, war einfach so eine Idee.“
„Ist alles in Ordnung?“
„Alles in Ordnung.“
Sie deckten den Tisch. Die beiden Männer standen an der Gartentür und unterhielten sich beim Wein. Ein Abend, wie sie ihn schon oft erlebt hatten. Ein Abend, an dem Maggie normalerweise die Wärme genossen hätte, die das Kaminfeuer verbreitete.
Sie setzten sich zu Tisch.
„Kleines, was ist los mit dir?“ Karl sah sie mit sorgenvollem Blick an. „Sollen wir das Fleisch mit den Fingern essen?“
„Oh, entschuldigt!“ Maggie sprang auf, um Besteck zu holen.
Anne kam hinterher.
„Manchmal kann er wirklich eklig sein“, sagte sie, aber Maggie winkte mit den Messern in der Hand ab.
„Du kennst ihn doch. Er ist halt ein Perfektionist.“
Als sie wieder hereinkamen, referierte Karl über seine neueste Theorie, dass die Summe des Unglücks bei jedem Menschen stets auf gleichem Niveau bleibe. Es käme auf jeden selbst an, wie er das Leben sehe. Ein Optimist würde auch in schlechten Zeiten seine Stimmung über die Wirklichkeit stellen, ein Pessimist auch in guten Zeiten dafür sorgen, dass er genügend Sorgen hatte. Maggie kannte diese These bereits, Karl hatte sie ihr schon mindestens dreimal dargelegt, seitdem er sie kürzlich in einer Zeitschrift gelesen hatte.
Anne war anderer Meinung.
„Wenn deine Theorie stimmen würde, wäre Glück ja eine rein subjektive Empfindung, die durch äußere Faktoren nicht zu beeinflussen wäre.“
„So ist es!“, rief Karl triumphierend. „Aus Glück und Leid wird Mäßigkeit!“
„Woher hast du denn den Satz?“, fragte Theo.
„Habe ich mir eben ausgedacht!“
Maggie musste lachen.
„Was gibt es da zu lachen?“
„Nichts, nichts. Du hast es nur so komisch gesagt.“
„Also ich schließe mich eher Anne an“, meinte Theo.
„Nehmen wir an, jemand lebt ein sehr glückliches und zufriedenes Leben. Dann hat er einen Unfall und verliert beide Beine. Danach verliert er obendrein, ihr verzeiht mir den in diesem Fall makaberen Ausdruck, den Boden unter den Füßen. Er ist einfach nicht mehr derselbe. Sein ganzes Leben gerät aus den Fugen. Er kann nicht mehr arbeiten, wird ein Pflegefall, hat ständig Streit mit seiner Frau. Am Ende zerbricht seine Ehe, er landet in einem Heim für Behinderte und erhängt sich. War er jetzt Schmied seines eigenen Glückes?“
„Natürlich!“, rief Karl. „Als Optimist hätte er auch aus dieser misslichen Lage das Beste gemacht. Er hätte seine Arme trainiert, wäre zum Sport gegangen oder besser gesagt gefahren, hätte anderen geholfen, mit demselben Schicksal fertigzuwerden und wäre am Ende ein erfüllter Mensch geworden, der jeden Moment seines Lebens genießt.“
„Deiner Meinung nach gibt es also keine Schicksalsschläge oder Ereignisse, die einen Menschen unglücklich machen können?“, fragte Maggie.
„Nein.“
„Und wenn man zum Beispiel merkt, dass sein ganzes Glück, alles, woran man geglaubt hat, nur auf Sand gebaut ist?“
„Es ist doch ganz egal, ob man nur in einem Traum lebt, solange man glücklich ist.“
„Solange man nicht aufwacht“, fügte Maggie hinzu.
Karl schaute sie an, ein kleines Zucken um seine Augen. „Dass Du heute so spitzfindig bist.“ Er stand auf, um eine neue Flasche Wein zu holen.
Der Rest des Abends verlief in gewohnter Heiterkeit und Harmonie, und weil Anne am nächsten Tag früh rausmusste, wurde es nicht spät.
Als sie nebeneinander im Bett lagen und Karl seine Leselampe gelöscht hatte, fragte Maggie in die Dunkelheit:
„Wie ging noch mal der Spruch, den du dir vorhin ausgedacht hast?“
„Aus Glück und Leid wird Mäßigkeit!“
„Komisch, mir ist, als hätte ich den schon irgendwo einmal gehört.“
„Das kann gar nicht sein, Kleines!“, gab Karl schläfrig zurück.
Mitten in der Nacht schrillte das Telefon. Maggie fuhr hoch. Sie blinzelte auf die Uhr. 4.14 Uhr. Sie war erst vor einer Stunde eingeschlafen. Hastig stand sie auf und ging an den Apparat.
„Hallo?“
„Hallo Mama.“
Susanne. Obwohl sie achttausend Kilometer entfernt war, konnte Maggie hören, dass sie weinte.
„Was ist los, mein Schatz?“
„Ach, Mama.“ Ein Schluchzen zog sich durch die Leitung.
Karl drehte sich brummend auf die andere Seite.
„Warte“, flüsterte Maggie. „Ich stelle nach unten durch.“
Sie wählte die Eins, legte den Hörer auf die Gabel und lief durch den dunklen Flur nach unten in die Diele, wo der Apparat leise schnurrte. Sie nahm den Hörer ab.
„Er