Für ein Ende der Halbwahrheiten. Edelbert Richter
wie schwer das zu verkraften ist, auch wenn die Briten als Pragmatiker gelten. Schon als Großbritannien noch gar nicht der Europäischen Gemeinschaft angehörte und von einer deutschen Dominanz in ihr noch keine Rede sein konnte, hieß es im Evening Standard vom 20.1.1962: »Es gibt eine Verschwörung des Schweigens (…), die die Menschen vergessen machen will, wie der wirkliche Boss in Brüssel heißt, mit seinem ingoutablen Namen, der sich weder weich noch angenehm noch französisch spricht, der vielmehr deutsch ist – kein anderer als Dr. Adenauers vertrauter Kumpan, Professor Walter Hallstein. (…) Was Hitler im Krieg nicht gelang, will Hallstein im Frieden schaffen. (…) Für Adenauer und Hallstein ist kein wirtschaftliches Opfer groß genug, wenn es auf dem Weg zu einer deutsch-kontrollierten politischen Herrschaft über Europa weiterhilft.«9 Der Londoner Historiker John Ramsden urteilt dann über Thatcher, dass zu deren Amtszeit England »mehr offen antideutsche Vorurteile unter den Regierenden erlebte als zu jeder anderen Zeit seit 1945«. Ramsden kommt zu dem Schluss, dass der Sieg über Deutschland »noch immer wesentlich für die Identität der Briten ist und definiert, wer sie sind und wie sie es wurden«.10
Bekanntlich leistete Margaret Thatcher 1990 auch den stärksten Widerstand gegen die deutsche Wiedervereinigung. Gegen Kohls Bemühung, Deutschland fest in die Europäische Gemeinschaft zu integrieren, war ihr Einwand, dabei werde das Gegenteil herauskommen: »Manche Leute meinen, man müsse Deutschland nur in Europa verankern, um zu verhindern, dass sich die Charakterzüge seines politischen Übergewichts wieder durchsetzen. Statt aber Deutschland in Europa zu verankern, haben wir Europa an ein neuerdings dominantes Deutschland gebunden.«11
Im März 1990, wenige Tage vor einem Zusammentreffen mit Kohl, veranstaltete sie sogar ein Seminar mit Historikern, das der Premierministerin Klarheit über den deutschen Nationalcharakter verschaffen sollte. Im Memorandum des Seminars stand als zusammenfassende Einschätzung, dass die Deutschen ängstlich, aggressiv, anmaßend, tyrannisch, egoistisch und sentimental seien und außerdem unter Minderwertigkeitskomplexen litten. Auch Nicholas Ridley, Kabinettsmitglied und ein enger Vertrauter Thatchers, trug nicht gerade zu einer Verbesserung der Beziehungen bei, als er in einem Interview die Währungsunion »als deutschen Schwindel zur Übernahme ganz Europas« bezeichnete.12
Damals gab es also eine Differenz zwischen England und den USA, denn entgegen der britischen Haltung haben die USA die deutsche Einheit durchgesetzt. Für sie hatte der Sieg über die Sowjetunion offensichtlich den Vorrang, für die Briten dagegen das europäische Gleichgewicht.
Nun ist der Brexit durch eine Volksabstimmung beschlossen worden, folglich muss es auch in der Bevölkerung entsprechende Stimmungen geben. Zwar werden wir die Engländer im Allgemeinen als recht freundliche Leute erlebt haben, aber das ist wohl die knappe Hälfte, die gegen die Trennung von Europa gestimmt hat. Daneben gibt es jedoch eine traditionelle Fremdenfeindlichkeit und eine besondere Arroganz gegenüber den Kontinentaleuropäern, von denen Kenner der britischen Szene berichten.13 Ich beschränke mich wieder auf das Verhältnis zu den Deutschen, das der Bundesregierung und der deutschen Botschaft lange schon zu schaffen gemacht hat, ohne dass dies an die große Glocke gehängt wurde. Als die Briten 1977 gefragt worden waren, ob »der Nazismus oder etwas dieser Art« in Deutschland noch einmal Auftrieb bekommen könnte, hatten 23 % mit Ja geantwortet, 61 % mit Nein. 1992 hatte sich das Verhältnis hingegen fast umgekehrt! 53 % antworteten mit Ja, 31 % mit Nein. Ein Leitartikler des Daily Telegraph kam im Mai 2005 zu dem Schluss, dass Großbritannien sechzig Jahre nach dem Tag des Sieges in Europa »eine auf den Zweiten Weltkrieg fixierte Nation ist und immer mehr wird«. Im Juli 2003 veranstaltete das Goethe-Institut in London eine Konferenz, auf der diskutiert werden sollte, wie man das Ansehen der Bundesrepublik aufpolieren könnte. Eine Studie der Programmzeitschrift Radio Times, die in der Woche vor dem Beginn dieser Konferenz veröffentlicht worden war, hatte ergeben, dass im Lauf von nur sechs Tagen nicht weniger als dreizehn Sendungen zu »Themen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg« ausgestrahlt worden waren. 2004 wurden zehn bis sechzehnjährige englische Schüler befragt, was sie mit Deutschland verbinden: 78 % nannten den Zweiten Weltkrieg, 50 % Hitler. Ein Grund dafür wurde erkennbar, als die »Qualification and Curriculum Authority« (QCA) Ende 2005 in ihrem Jahresbericht zu dem Schluss kam, dass der Geschichtsunterricht an höheren Schulen »nach wie vor von Hitler dominiert wird. (…) Es ist zu einer schrittweisen Einengung und Hitlerisierung des Geschichtsunterrichts für Schüler über 14 gekommen«.14 Es scheint also tatsächlich eine latente Abneigung gegenüber Deutschland zu geben, die wir diplomatisch vornehm überspielt haben.
Nicht so ausgeprägt und verbissen wie in England, gab es gleichwohl auch in den USA eine ähnliche Tendenz, die Deutschen auf ihre NS-Vergangenheit festzulegen. Ich erinnere nur an den Bestseller von William L. Shirerüber die angeblich von Hitler geplante Invasion in den USA (1961), an die Holocaust-Serie (1978) oder an Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker (1996). Der Vorwurf ging seit der Wiedervereinigung aber eher dahin, die Deutschen benutzten jene böse Vergangenheit als Vorwand, um sich vor den harten NATO-Aufgaben zu drücken.
Hier knüpft nun Trump an und spitzt die Argumentation zu: Wir sollen mehr für die Rüstung ausgeben und für unsere Sicherheit selber sorgen. Auch die Polemik gegen die deutschen Exportüberschüsse ist nicht neu. Neu ist nur, dass Trump tatsächlich zum Protektionismus zurückkehren will, dass er darüber hinaus den Brexit begrüßt und wie viele Briten folgender Meinung ist: »Im Grunde ist die EU ein Mittel zum Zweck für Deutschland (…). Wenn Sie mich fragen, es werden weitere Länder austreten.«15 Vergleicht man diese Einstellung mit Großbritannien, so erfolgt die Distanzierung der USA von Europa aus einer ohnehin schon größeren Distanz und Überlegenheit. Die USA haben Europa zunächst gegen die Sowjetunion unterstützt, sich aber schon unter Reagan über europäische Interessen hinweggesetzt, unter Bush Jr. dann an der EU vorbei gehandelt und gegen sie polemisiert,16 und sie wollen jetzt die Verpflichtungen, die sich aus ihrer Machtstellung ergeben, möglichst ganz lösen und wieder freie Hand haben.
Das führt uns nun zu den tieferen historischen Gründen bzw. Hintergründen des gegenwärtigen Abschieds der Angelsachsen vom Kontinent und Deutschland. Wenn wir sie ausfindig machen wollen, so sollten wir bis zum Siebenjährigen Krieg (1756–63) zurückgehen, denn in ihm hat sich bekanntlich der Keim des deutschen Nationalstaats herausgebildet, und zwar schon damals in der Mitte zwischen den Flügelmächten in West und Ost. Das Preußen Friedrichs war sozusagen ein Kind der Liebe, zuerst Englands und dann Russlands. Denn mit dem Beginn des Krieges erfasste die Briten eine Begeisterung für Preußen, wie man sie sich heute gar nicht mehr vorstellen kann.17 Im ganzen Land wurden die ersten Siege Friedrichs enthusiastisch gefeiert, besonders der über die Franzosen bei Roßbach Anfang November 1757. Aus Anlass seines Geburtstags im Januar 1758 huldigte man im Parlament und in den Kirchen, in den Kneipen und auf den Straßen dem »preußischen Helden«. Dass er überhaupt »der Große« genannt wird, verdankt er den Briten! Auf Teekannen und Bierkrügen war sein Kopf zu sehen. Die Schiffe schossen Salut, das Militär paradierte zu seinen Ehren, und es gab sogar Freiwilligenverbände, die sich in der »preußischen Disziplin« übten! Die Solidarität mit Friedrich hatte auch Hand und Fuß, denn er wurde finanziell kräftig unterstützt. Was war aber der Grund dieser überschwänglichen Liebe der Engländer? Dass Preußen ihren großen Gegner Frankreich in Europa festhielt und beschäftigte, so dass sie ihn in Indien und Nordamerika besiegen konnten! Preußen diente also als Assistent bzw. Instrument des britischen Weltmachtstrebens, was William Pitt, der damals leitende Minister, recht treffend in die Worte fasste, Amerika sei in Deutschland erobert worden. Entsprechend zahlten die Briten 1761, als der Krieg in Amerika im Grunde entschieden war, an Preußen auch keine Subsidien mehr – obwohl es sich gerade in einer ganz verzweifelten Lage befand. Das war der plötzliche Liebesentzug, der den vorangegangenen Überschwang als trügerisch erwies. Das müssten unsere heutigen Westler eigentlich gut nachempfinden können, auch wenn sie mit Preußen nichts mehr zu tun haben wollen. Preußen wurde nur gerettet, weil 1762 völlig überraschend der neue russische Zar Peter III., ein glühender Verehrer Friedrichs, aus der Koalition gegen Preußen ausbrach und mit Friedrich Frieden schloss. Wir können an Gorbatschow denken, der in den 1980er Jahren als Retter begrüßt wurde – zwar nicht aus einem tatsächlichen Krieg, aber aus der Gefahr eines Atomkriegs, der Deutschland wahrscheinlich vernichtet hätte.
Die napoleonischen Kriege