Renovatio Europae.. David Engels
ja selbst in Frankreich anders aus, würde der Appell an den Nationalstaat hier doch wahrscheinlich sogar als »nationalistisch« ausgelegt werden.
Diese und viele andere ideologische Verschiebungen des politischen Diskurses lassen sich wohl am eindringlichsten am »Haus der europäischen Geschichte« in Brüssel ablesen. Hier erscheint die EU ganz offensichtlich als »telos« der gesamten abendländischen Geschichte, ganz im Einklang mit der in Deutschland entwickelten und überallhin exportierten Interpretation von Geschichte als Objekt der »Vergangenheitsbewältigung« (und gleichzeitig auch Vergangenheitsüberwältigung): Die gesamte europäische Geschichte wird (übrigens sehr summarisch) als eine einzige Folge von Greueltaten betrachtet, in welcher nur hier und da, etwa in Form der Französischen Revolution, das Licht der Vernunft als »Vorbote des Guten« durchscheint; die »richtige« Geschichte Europas aber beginnt eigentlich erst mit dem Zweiten Weltkrieg und beruht nicht nur auf dem üblichen »Nie wieder Krieg«, sondern auch auf der Verpflichtung der Selbstauflösung der Nationen als gerechter Strafe für die Verbrechen der Vergangenheit.
Aus polnischer Perspektive betrachtet, ist eine solche Darstellung der Geschichte kontrovers und zweifelhaft, da sie mit der in Polen und vielen anderen Ländern Mitteleuropas immer noch praktizierten Sicht der Vergangenheit kontrastiert: Geschichte ist hier immer noch eine Lehrmeisterin konservativer Werte- und Moralvorstellungen, ein Aufruf zur Imitation der großen Vorgänger, eine Verpflichtung zur loyalen Fortsetzung vergangener Traditionen und ein Schatz materieller und immaterieller Güter, die es zu bewahren und schützen gilt. Wie ich häufig bei Diskussionen mit meinen Kollegen selbst von der EVP feststellen mußte, mit denen ich das »Haus der europäischen Geschichte« besichtigte, scheint gerade eine solche Sichtweise der Geschichte im Westen Europas kaum noch verständlich: Selbst der Stolz auf den Heroismus des Widerstands gegen den Totalitarismus (etwa durch die polnische Heimatarmee, die sich nicht nur verzweifelt gegen die Nationalsozialisten, sondern auch gegen das kommunistische Regime gewehrt hat, oder die französische Résistance eines Jean Moulin) gilt nunmehr als zu »nationalistisch«.
Doch nicht nur das Christentum und der Nationalstaat werden heute weitgehend als positiv konnotierte, identitätsstiftende Faktoren abgelehnt, wie ich kürzlich erfahren mußte: Als ich in einem Bericht zur Lage der Erziehung davon sprach, daß die europäische Identität nicht nur auf christlichem Glauben, sondern auch griechischer Philosophie und römischem Recht beruhe, war es nicht nur der Hinweis auf das Christentum, der aus dem Text gestrichen werden mußte – das hatte ich erwartet –, sondern auch die Anspielung auf die klassische Antike. Selbst ein Verweis auf den Begriff der »Tugend«, die ich als ein wesentliches Ziel der Erziehung bezeichnete, wurde als »reaktionär« abgelehnt – auch für sie scheint kein Platz zu sein in einem offiziellen Dokument der Europäischen Union. Dabei ist es eigentlich unwesentlich, in welchem Maße jener Begriff des Fortschritts und der »Bewältigung« der Vergangenheit tatsächlich auch »offiziell« als Leitfaden der europäischen Institutionen erscheint: Zentral ist hier vielmehr das, was man mit Michael J. Sundal ihre »öffentliche Philosophie« (»public philosophy«) nennen könnte, welche sich eben nicht (nur) in der Ideologie, sondern auch den institutionellen Praktiken der Institutionen widerspiegelt. Und deren politische Ausrichtung ist mehr als eindeutig.
4. Der moralische Imperialismus des modernen Europa
Macron behauptet in seinem Aufruf: »Europa als Ganzes spielt eine Vorreiterrolle, denn es hat von jeher die Maßstäbe für Fortschritt gesetzt.« Für wen? Für die gesamte Welt? Und wann genau? Wie soll das mit der herkömmlichen Kritik am angeblich omnipräsenten Eurozentrismus einhergehen, welcher zudem ironischerweise gerade den Konservativen zur Last gelegt wird? Und welcher Fortschritt ist hier gemeint – scheinbar wohl auch der moralische und politische? Dies ist freilich eine sehr bedenkliche Haltung, welche ein wenig an das Interview erinnert, das Bruno Le Maire vor einigen Monaten dem Handelsblatt gab, und in dem es hieß, »daß Europa eine Art Empire werden muß, wie China es ist. Und wie die USA es sind.«2 Nun ist mit diesem »Empire« nicht etwa der Wunsch gemeint, Europa möge sich in seiner Verfassung an jenen mittelalterlichen Föderalstaaten orientieren, welche unter christlichen Vorzeichen eine größtmögliche innere Vielfalt mit einem effektiven Schutz der äußeren Grenzen verbanden, und wie sie auch heute noch von Denkern wie Jan Zielonka oder, in diesem Band, David Engels als Vorbild angesehen werden; vielmehr geht es wohl um ein moralisch expansives »Empire«, welches seine eigenen Wertvorstellungen unter dem Deckmantel »universaler Werte« überallhin verbreiten will.
Nun ist bekannt, daß jedes Imperium zwar immer schon eine moralische Mission verfolgt, aber gerade heute erleben wir eine nie dagewesene Moralisierung der Politik, nicht nur (wenn auch vor allem) in Deutschland, sondern auch in der EU. Typisch ist hierfür die traditionelle Donnerstagssitzung des EU-Parlaments in Straßburg: Einen halben Tag lang verbringen die Parlamentarier ihre Zeit damit, in langen Listen alle möglichen Verstöße gegen die Menschenrechte überall auf der Welt moralisch zu »verurteilen«, wobei zunehmend auch Mitteleuropa in den Fokus der Diskussionen gerät (die Situation in westeuropäischen Staaten wie Spanien oder Frankreich wird kurioserweise allerdings dezent ausgeblendet). Die Botschaft ist eindeutig: Das Parlament glaubt, durch seine »Erklärungen« und »Verurteilungen« die Welt zu einem besseren Ort zu machen (wenn sich auch nach einiger Zeit eine gewisse Ernüchterung einstellt, wenn man beobachtet, daß die Liste der Verstöße eigentlich von Sitzung zu Sitzung nur wenig Veränderungen aufweist), und die moralische Botschaft ist klar: Nur wenn die gesamte Welt von der EU, oder doch zumindest wie die EU, regiert wird, kann das »Böse« als ausgerottet gelten und das »Gute« triumphieren – ein wahrer Messianismus politisch korrekten Denkens, wie wir ihn ja auch in den Reden von Frans Timmermans wiederfinden, vor allem, wenn dieser über die Lage in Polen spricht.
Typisch in dieser Hinsicht ist ein kleines, aber bezeichnendes Detail: Auf meinen Reisen ins außereuropäische Ausland, vor allem in solche Staaten, die von der EU in der einen oder anderen Weise unterstützt werden, geschieht meistens, daß die Gastgeber unsere Delegationen mit einigen wohlgesetzten Worten begrüßen, in denen sie die EU für jene Werte loben, welche ihr, so nehmen sie an, am wichtigsten sind. Hierbei kommt ausnahmslos nicht nur der »Klimaschutz« zur Sprache, sondern auch immer die sogenannte »Homo-Ehe«. In diesem Zusammenhang kann man kaum anders, als eine gewisse Diskrepanz festzustellen: Denn der begrüßenswerte und eigentlich ungemein konservative Wunsch nach dem Schutz der Natur kontrastiert merklich mit jener Form des radikalen Konstruktivismus im gesellschaftlichen Bereich, wie ihn die EU vertritt, und welcher den doch scheinbar so schützenswerten Vorgaben der Natur offensichtlich stark widerspricht. Man fühlt sich unweigerlich an den berühmten Ausspruch von Massimo d‘Azeglio erinnert: »Abbiamo fatto l‘Italia ora dobbiamo fare gli Italiani« (»Italien haben wir geschaffen, nun müssen wir Italiener schaffen«), oder, anders gesagt: Wir haben Europa zu einem politisch korrekten Kontinent umgestaltet, nun müssen wir nur noch die dazugehörigen Bürger konstruieren.
Und in der Tat wird kaum ein offizielles Dokument der EU verabschiedet, welches nicht in der einen oder anderen Weise auf die Frage nach alternativen »Gender«- und Familienmodellen rekurriert und, wo die Entwicklung noch nicht »so weit ist«, auf die Umsetzung jener Ideologie abzielt, wie etwa an der Peripherie der modernen EU, wo einige rückständige Barbaren (wie die Bewohner meines Heimatlandes und ihre Regierung) an einem angeblich überwundenen gesellschaftlichen Modell festhalten und in der einen oder anderen Weise »zur raison gebracht werden« müssen – eine umso seltsamere Entwicklung, als es eigentlich die Christdemokraten sind, welche die stärkste politische Kraft des Europäischen Parlaments ausmachen.
5. Wer regiert die EU?
Es stellt sich in der öffentlichen Debatte verstärkt die Frage »cui bono«: Wer profitiert von jener ideologischen Revolutionierung der Europäischen Union, wer stellt die Kräfte, welche dieses System stützen und von ihm profitieren? Die Antwort ist einfach: Wir sind in der westlichen Welt mit nichts weniger als einem modernen Klassenkampf konfrontiert. Während wir auf der einen Seite jene Menschen haben, die in ihrer jeweiligen Heimat, ihrer Kultur, ihren Bräuchen und ihrer Identität verwurzelt sind und somit in der Kontinuität eines jahrhundertelang zurückgehenden Menschenbildes stehen, haben wir auf der anderen Seite eine neue, globale Elite,