Traum und Ziel. Karl Friedrich Kurz
und die armen Kinder. Wer sollte ihnen helfen? Wer soll all den vielen helfen, die leiden müssen? Einst zog ein tapferer Ritter aus, mit der Stärke seines Armes allen Verfolgten zu helfen und Krummes geradezubiegen. Dafür wurde er selber geprügelt und ausgelacht. Es bleibt das Weltgetriebe stets dasselbe. Den einen trifft es so, den anderen anders ...
Die Italiener lebten weiter.
Aber gegen den Frühling hin ereignete sich etwas Schlimmes, ein Unglück. Das traf Konrad. Das Schicksal hatte ihn ausersehen, da mussten ihm beide Arme verbrannt werden. Und auch das ging so einfach und alltäglich zu, als fiele nur ein reifer Apfel vom Ast. Ein Teil Unachtsamkeit, ein Teil Heldentum, daraus entstand Konrads Unglück.
Zweifellos war das der erste Fehler, dass der Drogist in seiner Werkstatt einen offenen Petrolkocher verwendete. Dann war der zweite Fehler, dass der Geselle darauf Wachs schmolz. Das Weitere ergab sich von selber: überkochendes Wachs, Geschrei, ein fliehender Geselle. Vielleicht wäre ein Haus eingeäschert worden. Aber nun stand eben ein Junge, wie dieser Konrad, dabei, und der hatte, wie jener irrende Ritter, in seinem Herzen den Drang, zu helfen, ohne lange Überlegung. Darum griff er zu mit seinen beiden Händen. Und da es nun so geschehen sollte, trug Konrad an diesem Tage einen neuen Leinenkittel, der sogleich in heller Lohe stand. Der ganze Konrad wurde zur brennenden Fackel.
Sie zogen ihm den Kittel über den Kopf; aber die Knöpfe an den Ärmeln hielten fest. Sie wickelten ihn in nasse Tücher und erstickten das teuflische Feuer. Zu spät. Das Feuer hatte Konrads Arme vernichtet; Konrads beide Arme, mit denen er arbeiten wollte ein ganzes Leben lang.
Sie brachten ihn ins Krankenhaus. Da lag er nun — ein gefällter junger Baum, der nie blühen und keine Früchte tragen durfte. Es ward Konrads Lebensweg abgebrochen. So unbegreiflich laufen die Wege der Menschen, bald grauenhaft, bald lächerlich. Die Menschen können es nicht ändern.
Der reiche Weinhändler Bondorf verschwendete sein Geld und verlor deshalb sein Leben und das Leben seiner Frau; aber Konrad verlor alles durch eine gute Tat, sein Herz war frei von Gier und Sünde. Ach, ihr Freunde, wer vermag je das Geschick der armen Menschen zu deuten?
Die Lohmannschen Frauen heulten jammervoll; selbst Hannes Frank, der sonst in jeder Not einen Rat wusste, verstummte. Noch hofften sie, dass nicht alles verloren sei. Doch mit Konrad stand es schlimmer als schlimm. Es sei hoffnungslos, erklärte der Arzt. „Die Arme sind verloren.“
„Allmächtiger — beide Arme?“
„Beide Arme.“
Ach, wie sie klagten und heisse Tränen vergossen, die Frauen. „Nur zu Leid und Schmerz wurde er geboren“, klagten sie. Sie wandten sich an die höheren Mächte und fragten: „Was hat er denn verbrochen, der arme Bub, dass er derart gezüchtigt wird?“ Sie erhielten keine Antwort auf diese Frage.
Endlich fand Hannes Frank seine starke Sprache wieder; endlich erinnerte er sich an sein Zauber- und Wunderbuch, an den Helfer aus allen Nöten. Er legte den Kopf zurück und verkündete: „Beide Arme! Ob es ein zehnfacher Professor ist, der solches behauptet — ich meinerseits glaube nicht daran. Ich sage: Wo noch Leben ist, ist Hoffnung. Und die studierten Herren machen auch ihre Dummheiten.“
Gut gesagt; eine frische Sprache und ein linder Trost für die Frauen. In den nächsten Tagen wurde nicht gekämpft im Ritterhof; alle schlichen traurig und bedrückt umher wie gezüchtigte Kinder.
Die Wunden in Konrads Gesicht heilten überraschend schnell. Nach ein paar Wochen wurden ihm die Binden abgenommen, und er lächelte Werner entgegen — blass wie immer, geduldig wie immer. Konrad trug sein Leid mit der wunderbaren Ergebung der Tiere, die nicht jammern, die sich nur irgendwo verkriechen, um stumm zu sterben.
„Ja, ja — das ist eine sorgenvolle Geschichte“, sagt Konrad. Es klingt beinahe wie eine Entschuldigung. „Nimm den Stuhl dort. Rück näher — so — setz dich doch!“ Alles scheint ihm selbstverständlich. „Und jetzt liege ich also hier“, sagt Konrad.
Und es ist wohl nicht mehr darüber zu sagen. Da liegt er.
Aber für Werner ist das nicht so klar und begreiflich. Werner öffnet mühsam den Mund — kein Laut. Mit zuckenden Fingern fährt er über den Rand des steifen Hemdkragens, der auf einmal so eng wird und furchtbar würgt. Eine Bleikugel steckt in seinem Hals, er schluckt und schluckt und kann sie nicht verschlucken.
„Dort — jenes Stück Schokolade“, sagt Konrad, mit den Augen auf den kleinen Tisch zu Häupten des Bettes weisend. „Die Schwester gab es mir. Nimm es. Ich mag Süssigkeiten nicht, wie du weisst. Und hier bekomme ich viel zuviel davon. Sie schenken mir alles mögliche. Alle sind gut gegen mich.“
Ob Konrad Süssigkeiten nicht leiden mochte, wie hätte Werner das wissen können? Hingegen weiss er, dass Konrad das Stücklein Schokolade für ihn aufgespart hat. Da ihm jedoch eine Kugel im Halse steckte, vermag er nichts zu essen. „Hattest du grosse Schmerzen?“ fragt er.
„Nein. Zuerst war es der Schreck; ich war ja ganz betäubt. Wenn die Schmerzen zu gross werden, empfindet man sie nicht mehr. Und heute spür’ ich auch nicht viel davon — nur wenn sie den Verband wechseln ...“
Sie plaudern ein wenig miteinander, und Konrad erkundigt sich nach seinen Kaninchen. „Du hast sie doch nicht vergessen?“
„Ich füttere sie jeden Morgen und jeden Abend.“
„Ja, das hab’ ich mir schon gedacht.“
Lange Pause.
„Bald wirst du wieder aufstehen und sie selber füttern.“ Werner sagt das und glaubt daran in seinem Knabenherzen, weil er es so sehr wünscht.
Aber Konrad schüttelt den Kopf. „Nein, nein, du — mit mir ist es aus. Sie drehen mir jedesmal den Kopf zur Seite, wenn sie mich verbinden. Aber ich habe meine Arme gesehen — an der linken Hand sind nur noch zwei Finger ...“
Werners Lippen beben, sein Kinn bebt, und ohne dass er selber es merkt, laufen ihm die Augen über. Er starrt entsetzt auf die beiden weissen Hügel, zwischen denen Konrad liegt; Eiswasser rieselt ihm den Rücken hinab. Er schlottert vor Kälte. Verwirrt und verzweifelt murmelt er: „Das — nein — vielleicht täuschest du dich...”
„Ich täusche mich nicht. Die Schwester sagte heute, man könne gut leben und glücklich sein ohne Arme.“
„Sagte sie das? Was meinte sie damit?“
„Ich denke, sie wollen mir die Arme abnehmen. Aber das dürfen sie nicht. Ich hab’ es der Schwester gesagt.“
„Nein, das dürfen sie nicht.“
„Aber sie können mich jederzeit operieren. Wie sollte ich mich dagegen wehren?“
„Sie dürfen es niemals tun“, sagt Werner noch einmal mit brüchiger Stimme. „Ich will mit der Schwester reden.“
„Ja, rede mit ihr.“
Dann unterhalten sie sich wieder und kommen auf andere Dinge. Werner sagt: „Die Märzenglöcklein, die du im Herbst gepflanzt hast, blühen schon. Ich wollte dir ein paar mitbringen, aber ich vergass es.“
Konrad schliesst die Augen. Die schmale Öffnung zwischen den Lidern füllt sich mit Tränen. Er flüstert verschämt: „Unter meinem Kissen liegt ein Taschentuch.“
Während Werner Konrads Tränen trocknet, wundert er sich, wie es möglich sein kann, dass zu dieser Stunde an der hinteren Mauer des Gartens Märzenglöcklein blühen dürfen. Und er wundert sich, ob überhaupt jemals wieder Blumen blühen dürfen in einer Welt, in der so Furchtbares geschehen kann. Ein ähnliches Gefühl von Verzweiflung und Verlassenheit überfällt ihn wie an jenem Samstag, als sein Vater das Versprechen brach und alle seine Himmel einstürzten.
Befremdlich klingt Konrads Stimme: „Ich möchte gern zu euch zurück — glaubst du, dass das möglich ist?“
Am ganzen Leibe zitternd, schiebt Werner das Taschentuch wieder unters Kissen. „Warum sollte das denn nicht möglich sein?“ fragt er erstaunt.
„Weil es