Glashauseffekt. Alexander Sperling

Glashauseffekt - Alexander Sperling


Скачать книгу
Regen dort. Schadstoffe im Grundwasser. Übersäuerung der Böden. Verlorene Artenvielfalt. Massives Insektensterben. Mindestens ebenso massives Waldsterben durch den Borkenkäfer, der die höheren Temperaturen liebt. Sogenannte Ewigkeitsschäden fossiler Energie-

      gewinnung. Hangrutschen, tagebauinduzierte Seismizität, sümpfungsbedingte Bodenabsenkung. Und das sind nur die vergleichsweise geringen Schäden in Deutschland. Der unglaubliche Bevölkerungsdruck aus europäischen Küstenregionen und der restlichen Welt. Die unvorstellbare, nie da gewesene Not in Afrika und das Elend in weiten Teilen Asiens. Der Mangel an Wasser und Ackerfläche, dazu die Verteilungskämpfe oder besser gesagt die Verteilungskriege. Zu allen Problemen in Deutschland und Europa kommt die desolate moralische Lage des Westens vor der Weltgemeinschaft! Die kostspieligen und dennoch unzureichenden Wiedergutmachungsprojekte in den noch stärker betroffenen Ländern. Die Kosten und Probleme für Deutschland durch den massiven Migrationsdruck aus aller Welt. Und dann erst die individuellen Schicksale! Stark erhöhte Tumorgefahr bei den Erwachsenen, Fehlbildungen bei Neugeborenen …«

      Perec trinkt einen Schluck Wasser und Erica denkt an TT und seine Tochter. Im Saal hat sich eine bedrückte Stimmung breitgemacht.

      »Diese Probleme waren natürlich auch zu Beginn des neuen Jahrtausends bereits bekannt. Zahllose sogenannte Green Deals wurden auf allen Regierungsebenen vereinbart, insbesondere in den 10er- und 20er-Jahren. Diese Deals wurden dann jedoch entweder nach wenigen Jahren schnell wieder aufgeweicht oder ihre Ziele nach vielen Jahren überraschend deutlich verfehlt. Der Abschluss solcher Deals ging immer mit einer gewaltigen medialen Inszenierung einher, ihr faktisches Scheitern dagegen wurde möglichst diskret eingeleitet, durchgeführt und schließlich zu den Akten gelegt. Eine perfekt geölte PR-Maschine, die einem ganzen Land, ja sogar einem ganzen Kontinent plötzlich einen grünen Anstrich verpassen sollte.

      Der Umwelt war das alles freilich ganz egal. Im Jahr 2031 begann die Lebenserwartung in Deutschland erstmals wieder langfristig abzusinken. Eine sekundäre Folge der Umweltkrise und ein seit dem Dreißigjährigen Krieg einmaliger Vorgang. Der Zweite Weltkrieg führte dagegen nur zu einer kleinen Delle in den Kurven. Die Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards ist sogar schon seit den späten 2020er-Jahren erstmals wieder rückläufig gewesen.

      Sie haben es erlebt oder wissen es aus dem Geschichtsunterricht: Erst zu diesem Zeitpunkt, vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen, ereignete sich die sogenannte Zweite Deutsche Wende. Statt Umweltschutz lautete das offizielle Ziel nun auch Umweltheilung; statt Klimaneutralität strebte man erstmals eine deutlich negative CO2-Bilanz an. Statt neue Schäden bloß zu vermeiden, wollte man jetzt auch alte Schäden wiedergutmachen. Vor allem aber, und das ist der entscheidende Punkt, meinte man diese Ziele plötzlich ernst. Man war bereit, tatsächlich etwas zu investieren. Mittelfristige wirtschaftliche Einbußen in Kauf zu nehmen. Sich einzuschränken.

      Doch trotz all unserer immensen Anstrengungen nach der Zweiten Wende, trotz aller Bemühungen und Entbehrungen, trotz aller Innovationen und Investitionen – ist es uns noch immer nicht gelungen, die eben genannten Trends wieder umzukehren. Die allgemeine Lebenserwartung und der durchschnittliche Lebensstandard sinken weiterhin jedes Jahr. Auch alle anderen relevanten Kennzahlen zivilisatorischer Entwicklung sind rückläufig. Die Folgen der Umweltkrise belasten unser Land mit jedem Jahr stärker, in allen gesellschaftlichen Bereichen. Und wie lange noch?! Wir wissen es nicht.«

      Es folgt eine weitere Kunstpause. Erica hat eine Gänsehaut wider Willen, ihr Atem geht schnell. Sie späht nach rechts. Im Bildschirm ihres Kollegen stehen nur Stichpunkte, der oberste lautet: Perec: Ganz billige Rhetorik. Der Kol-

      lege spürt Ericas Blick und schnaubt demonstrativ.

      »Ab einem gewissen Ausmaß an menschlichem Leid stellt sich die Verantwortungs- und Schuldfrage ganz automatisch. Niemand kann bezweifeln, dass dieses Maß an Leid in unserer Gesellschaft schon längst erreicht ist. Welche Schuld aber trifft uns, die wir ganz überwiegend damit beschäftigt sind, alte Versäumnisse auszubügeln? Keine! Welche Schuld trifft eine Zeit, die nichts vom Anthropozän wusste, nichts davon wissen konnte, der die Ressourcen dieser Erde unendlich erscheinen mussten? Keine! Aber welche Schuld trifft eine Zeit, in der alle relevanten Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnisse vorlagen und in der Umweltschutz trotzdem nur gespielt wurde, anstatt ihn substanziell zu betreiben? Ja: diese Zeit, diese Epoche, diese Generation trägt Schuld!«

      Der ganze Saal ist in großer innerer Bewegung, weniger ein Geräuschpegel als eine elektrische Ladung verbreitet sich und erfasst jeden. Erica schielt nach links. Beim Anblick der weißen Fäuste ihrer Nachbarin fallen ihr ein paar Zeilen ihres Lieblingsoldies ein: Oh and as I watched her on the stage / My hands were clenched in fists of rage. Eilers dagegen sitzt reglos vorne, direkt gegenüber von Perec.

      »Zwar wäre Deutschland natürlich nicht in der Lage gewesen, das Ruder alleine herumzureißen, ebenso wenig, wie ein Einzelner das gekonnt hätte. Doch befreit das in keiner Weise von der Schuld, die Individuen oder Nationen auf sich geladen haben, als sie wider besseres Wissen untätig geblieben sind, weil die anderen auch untätig waren. Die Individuen untereinander – und mehr noch die Nationen untereinander – haben versucht, sich durch ihre Untätigkeit gegenseitig moralisch Deckung zu gegeben. Es erscheint im Nachhinein als ausgeklügeltes System: ›Tut ihr nichts, auf dass auch wir nichts tun müssen.‹

      Als wäre es so undenkbar gewesen, einmal ernsthaft in Vorleistung zu gehen und ein positives Beispiel abzugeben, gerade für Deutschland. Zur Abwechslung mal ein Jahrhundert mit einem moralischen Polster beginnen! Stattdessen wurde Umweltschutz auch hierzulande nur gespielt, nur vorgegaukelt. Ein Wahlvolk wurde permanent betrogen, das permanent betrogen werden wollte. Auch hier ein Zweckbündnis: ›Gebt uns ein gutes Gewissen, aber wagt es nicht, uns dafür auch nur einen einzigen Arbeitsplatz zu nehmen.‹ In summa: Auf drei Ebenen wurde in den Jahren von 2000 bis 2030 Schuld auf sich geladen, an der wir heute schwer zu tragen haben, materiell und moralisch. Diese Ebenen betreffen erstens das einzelne Individuum, zweitens die Führungselite und drittens die Gesellschaft als Ganzes. Bevor jedoch Ursprung, Art und vor allem Ausmaß dieser Schuld im Einzelfall festgestellt werden können, ist es nötig, den Blick noch einmal auf das Heute zu richten, um eine genaue Übersicht über die Höhe des Schadens zu gewinnen.«

      Der Saal sinkt kollektiv in die Stuhllehnen zurück, das Feuerwerk ist vorerst beendet, die Schule beginnt. Perec bemüht Tabellen, Grafiken, Schaubilder. Und Berechnungen: Kosten für Rückbau, Kosten für Entsiegelung, für Renaturierung. Kosten für die Sozialkasse. Steuerausfälle. Schon bald will niemand mehr so recht folgen, die Reihen im Oberrang beginnen sich zu lichten. Ericas Gesicht brennt, vermutlich löst sich schon Haut ab. Der Kollege rechter Hand sucht ihren Blick. Sie ignoriert ihn ein paar Sekunden, dann wird es unangenehm und sie sieht zu ihm.

      »Ich bin übrigens Tom. Sehr erfreut.«

      Er streckt flüsternd die Hand aus und blickt sie geradewegs an. Von diesem radikalen Umschwung ist sie etwas perplex.

      »Äh, Erica.«

      »Na, was hältst du von dem allem so?« Er nickt mit dem Kopf nach unten.

      »Ich weiß jedenfalls sehr genau, was du von dem allem so hältst.«

      Erica deutet in Richtung seines Bildschirms, doch ihr Nebenmann lächelt nur spöttisch. »Das war keine Antwort.«

      »Doch – nur eben nicht auf deine Frage.«

      Er sieht sie lange und etwas herausfordernd an.

      »Bekomme ich noch eine?«

      Erica seufzt unwillkürlich. »Ich weiß nur, dass ich heute Abend einen Artikel über das alles schreiben muss und einfach keinen Ansatz finde.«

      »Neu in der Branche?«

      Erica macht eine vage Geste. Sie ist Reporterin bei einem kleinen Online-Lokalblatt und in erster Linie für den Prozess akkreditiert worden, um die Statistik aufzuhübschen. Jung, weiblich, regional. Erica weiß das und will sich die Chance trotzdem nicht entgehen lassen.

      »Was würdest du denn schreiben, also an meiner Stelle?«

      »Reportage? Oder Kommentar?«

      »Bin ich von der Redaktion


Скачать книгу