Glashauseffekt. Alexander Sperling
einnehmen möchte, vielleicht so ungefähr gar keine mehr?
Weil sie zunehmend genervt und allmählich müde wird, nimmt Erica zwei Molocos. Um sich selbst zu beweisen, dass sie es nicht tut, um irgendjemandem etwas zu beweisen, nimmt sie sie heimlich. Tatsächlich ist die Wirkung zunächst sehr angenehm. Die gedämpfte Musik spürt sie jetzt eher, als sie zu hören, während sie barfuß auf Phillys Gästematratze tanzt. Irgendwann fragt Dingo spöttisch, ob es ihr gut gehe. Statt einer Antwort zieht sie ihn fest zu sich und küsst ihn ziemlich aggressiv. Sie spürt, dass er hart wird, spielt mit der Hand über die Stelle und flüstert: »Wait till they’re gone, baby!«
Dann sieht sie eine unbestimmbare Zeitspanne lang alles merkwürdig verzerrt. Dann bekommt alles einen starken Grünstich. Dann wird ihr übel. Dann wird sie unfassbar müde. Obwohl noch mehrere Gäste anwesend sind, legt sie sich einfach ins Bett und ist sofort weg.
Sie wacht auf, weil jemand aus dem Zimmer schleicht. Sie hat keinen Kater, aber einen eigentümlichen Geschmack im Mund. Es ist heiß und stickig, sie möchte dringend etwas trinken. Erst nach diesen Gedanken bemerkt sie, dass sie alleine im Bett liegt. Sie richtet sich halb auf und sieht, wie Dingo und Philly zu zweit auf der Ein-Mann-Gästematratze schlafen. Philly ist fast komplett zugedeckt, nur die Zehen lugen hervor. Dingo dagegen hat kaum Decke und schläft in Boxershorts, sein fitter, dunkler Oberkörper ist nackt.
Mit einem panikartigen Gefühl des Ertrinkens steigt Erica über einen alten Freund von Philly, der mit dem Gesicht nach unten bei der Tür liegt, und geht schnell treppab ins Badezimmer. Sie versucht sich zu beruhigen, doch es gelingt nicht.
Sie ist gar nicht sicher, wie Philly mittlerweile untenrum bestückt ist.
Eine PfG-Abgeordnete mittleren Alters aus Franken, die natürlich an jedem einzelnen Verhandlungstag anwesend ist, konnte ihr, der lokalen, weiblichen Nachwuchskraft, ein Interview zum Prozessauftakt nicht verweigern. Zunehmend hektisch sucht Erica den Besprechungsraum M 032, der sich irgendwo in der gläsern-wabenartigen Architektur des Forums verbergen muss. Als sie schließlich abgehetzt und ein paar Minuten zu spät in den richtigen Raum stolpert, hat die Abgeordnete dort bereits Getränke organisiert und ist sichtlich in ihrem Element. Hohe Föhnfrisur, Businesskostüm, Handtasche und Schuhe farblich abgestimmt. Audienz bei der Bienenkönigin, denkt Erica und macht Konversation. Bald schaltet sie mit mehr Aufwand und Getue als nötig die Aufnahmefunktion ihres Handys ein, um den Beginn des Interviews zu signalisieren. Die Abgeordnete guckt ziemlich verdutzt, dass sich tatsächlich noch jemand ohne AiO-Watch durchschlägt, sagt aber nichts.
»Wie zufrieden sind Sie mit dem bisherigen Prozessverlauf?«
Die Abgeordnete lächelt jetzt und hat diese Frage sichtlich erwartet.
»Natürlich lief zu Beginn noch nicht alles genau nach Plan, ein Prozess wie dieser muss sich erst finden, das ist ganz normal, doch insgesamt ist die PfG endlich am Ziel eines mühseligen Weges angekommen.«
»Wäre es Ihnen lieber gewesen, Eilers wäre nicht erschienen?«
»Nein, ganz im Gegenteil. Die PfG begrüßt die persönliche Anwesenheit der exemplarisch Angeklagten ausdrücklich. Es wäre aber wünschenswert gewesen, der Angeklagte Eilers hätte sein Erscheinen weniger dramatisch inszeniert.«
»Aber ist nicht der ganze Prozess eine reine Inszenierung?«
Erica hat ganz naiv, aus dem Bauch heraus gefragt, doch ihr Gegenüber wirkt jetzt verstimmt und sieht plötzlich älter aus.
»Das kann man wohl kaum vergleichen.«
Erica hat das Gefühl, etwas für die Stimmung tun zu müssen.
»Themenwechsel: Sie sind von Beginn der Bewegung an PfG-Unterstützerin gewesen, für Ihr Mandat lassen Sie nun sogar Ihre Professur am Lehrstuhl für Green-Robotic an der ETH Zürich ruhen. Was veranlasst Sie zu diesem Einsatz für einen Prozess, der keine juristischen Konsequenzen haben wird?«
»Sie müssen das als eine Art der kollektiven Psychohygiene betrachten. Man kann erst erwachsen werden und mit seiner Vergangenheit abschließen, wenn man sich schonungslos mit den Schattenseiten seiner Eltern auseinandergesetzt hat. Dieser Prozess soll und wird unserer Gesellschaft die Möglichkeit geben, einen Schlussstrich zu ziehen und endlich nach vorne blicken zu können. Dass dieser Prozess allen Widerständen zum Trotz zustande kommen konnte, zeigt, wie nötig er ist.«
»Was entgegnen Sie Kritikern, die behaupten, die Fokussierung auf exemplarisch Angeklagte verletze deren Persönlichkeitsrechte und sei auch der Komplexität von Umweltverschmutzung nach unsachgemäß?«
»Sehen Sie, wir sind in vielerlei Hinsicht die 68er des 21. Jahrhunderts. Wir fragen wieder unsere Eltern: Was habt ihr, ihr ganz persönlich, vor ein paar Jahrzehnten getan, als in Deutschland noch ein anderer Zeitgeist herrschte? Und diese Frage können Sie nicht nur einem Kollektiv stellen, die muss auch ganz individuell beantwortet werden. Der lediglich exemplarische Charakter dieser Auswahl ist dabei jedem klar. Und abgesehen davon trifft es ja weiß Gott nicht die Falschen …«
»Ihre Partei heißt mit vollem Namen Partei für Gerechtigkeit und intergenerationale Befriedung. Glauben Sie, dass dieser Prozess wirklich zu einer Befriedung zwischen den Generationen führen wird?«
»Unbedingt. Wenn endlich offiziell und eindeutig festgestellt wurde, wer Schuld trägt an den Problemen unserer Zeit, dann muss diese Schuldfrage nicht immer wieder von Neuem gestellt werden, und es kann ein Friedensvertrag mit klaren Grenzverläufen geschlossen werden. Das hat nichts mit Stigmatisierung zu tun, wie immer wieder fälschlich behauptet wird.«
»Abschließende Frage: Wie geht es mit der PfG weiter, wenn der Prozess beendet ist und die Partei ihren Daseinszweck damit erfüllt hat?«
»Zunächst werden wir wie vereinbart die Legislaturperiode zu Ende bringen und Kanzler van Dykes Koalition während dieser Zeit unterstützen. Für Spekulationen darüber hinaus ist es zum jetzigen Zeitpunkt noch viel zu früh. Alle Aufmerksamkeit muss jetzt dem Prozess gelten!«
»Vielen Dank.«
Nürnberg Today
Innenansicht
Von erica mazur
Nürnberg-Stadt | 17.03.2049
Lesedauer: 2:30 Minuten (schnell) | 5 Minuten (genau)
Was kann man noch sagen über einen Prozess, über den bereits alles gesagt ist? Was schreiben, wenn schon alles geschrieben ist?
Ich bin 23 und Prozessbeobachterin. Ich soll Eindrücke liefern, wie es im Inneren dieses Prozesses aussieht, sich anhört, wie es riecht, wie es schmeckt. Wie es schwingt, dort drinnen im Forum Francorum. Ich werde meiner Aufgabe nachkommen und dabei von außen nach innen vorgehen, vom Prof.-Harald-Lesch-Platz über den Al-Gore-Saal bis hin zu mir selbst.
Auf dem Lesch-Platz stellt man sich am besten mittig zwischen die zwei Demonstrationsblöcke, richtet den Kopf in Richtung Forum und schließt die Augen. Dann hört man von links »Achtet die Menschenwürde« und »Tod der PfG«, von rechts »Ein Rechtsstaat muss wirklich strafen« und »Hängt Eilers«. Das ist angenehm, man fühlt sich dadurch ganz im Zentrum, ganz mittig, ganz dazwischen.
Das Forum selbst gleicht an Verhandlungstagen noch mehr einem Bienenstock als sonst. Die Waben pochen im Bewusstsein, etwas Großes zu beherbergen, Schauplatz von etwas Wichtigem zu sein. Man könnte das Gefühl bekommen, im Bundestag zu sein oder zumindest in seiner fränkischen Außenstelle. Hier kann man sich mit vielen PfG-nahen Personen unterhalten, die für »intergenerationale Befriedung« eintreten und einem auftragen, die eigene Sippe einer strengen Inquisition zu unterziehen.
Tatsächlich wird einem die eigene Elterngeneration unheimlich, wenn man in Al-Gore sitzt und der Staranwältin Perec zuhört, die deren Untaten anprangert. Im Großen mit Furor, im Detail buchhalterisch penibel.