Das ferne Schloss. Barbara Cartland
verstehen, warum ihre Mutter die beiden Schwestern nicht darum beneidete, daß sie ein Leben in der eleganten Welt führten und ihre Bilder regelmäßig in den Zeitschriften erschienen.
»Du bist so schön, Mama«, hatte Nolita einmal gesagt. »Ich wünschte, du hättest teure Kleider und schönen Schmuck und wärest die Belle auf einem großen Ball.«
»Ich möchte lieber hier mit deinem Vater zusammen sein als im Buckingham-Palast tanzen«, hatte ihre Mutter erwidert.
Ihr Ton hatte Nolita verraten, daß es die Wahrheit war.
Jetzt sollte sie in eine Welt eintreten, die ihre Mutter für lieblos angesehen hatte.
Auch wenn sie ihnen nicht vorgestellt werden würde, so würde sie doch oft unter einem Dach mit dem Prinzen von Wales, Lady Brook und all diesen Leuten weilen, die ihre Tante Katherine für so wichtig hielt.
Das wird mir so zuwider sein, dachte Nolita. Und selbst wenn ich im Schulzimmer bin, werde ich von ihnen hören und werde wissen, warum Mama keinen Teil an dieser Sorte von Leben haben wollte.
Verzweifelt sagte sie sich, daß es nichts gab, was sie dagegen tun konnte.
Vernünftig, wie sie war, erkannte sie, daß ihre Tante die Wahrheit gesprochen hatte, als sie ihr mitteilte, ihr Onkel sei jetzt ihr Vormund und sie müsse ihm gehorchen.
Vielleicht wäre es schlimmer, wenn ich bei einem von ihnen leben müßte, überlegte sie.
Sie wußte, ihre Tante Katherine mochte sie nicht leiden und würde an allem, was sie tat, etwas auszusetzen finden.
Sie konnte nur hoffen, daß sie nicht den Unwillen der Marquise erregen würde. Und daß es ihr möglich sein würde, sich »raushalten« zu können, wie die Dienstboten zu sagen pflegten.
Ihr grauste davor, in das leichtfertige Leben hineingezogen zu werden, das ihre Tante Katherine führte.
Nolita hatte gelesen und gehört, welche endlose Folge von Bällen, Empfängen und Soireen Lady Katherine besuchte, wie entschlossen sie und ihre Altersgenossinnen den Kampf um einen Platz in dem »magischen Kreis« um den Prinzen von Wales führten und wie sie sich gleichzeitig bemühten, nicht das Mißfallen Königin Viktorias zu erregen.
Sie fand das alles schrecklich und gleichzeitig sinnlos, obwohl es eine so außerordentliche Bedeutung für diejenigen hatte, die daran teilnahmen.
Nolita wußte sehr genau, was ihre Tante mit der »Gelegenheit« meinte, die ihr das Kind, dessen Gesellschafterin sie werden sollte, verschaffen könnte.
Da die Enkelin der Marquise von Sarle sehr reich war, stand ihr ein Sonderplatz in dem »magischen Kreis« zu, denn, wie Lady Katherine so richtig gesagt hatte, »niemand hatte genug Geld«.
»Ich will ihr Geld nicht!« rebellierte Nolita plötzlich laut in der Dunkelheit. »Ich will Eros! Ich will hier in meinem eigenen Heim bleiben.«
Aber da sie wußte, daß das unmöglich war, weinte sie verzweifelt in ihr Kissen.
Ohne zu weinen sagte sie zwei Tage später Johnson Auf Wiedersehen und stieg in den Reisewagen, den ihre Tante ihr aus London geschickt hatte.
Es war längst kein so eleganter Wagen wie der, den Ihre Ladyschaft selbst benutzt hatte, und die Pferde waren zwar gut, aber nichts Besonderes.
Auf dem Bock saß nur ein Kutscher, kein Diener. Das ließ Platz für Nolitas Schrankkoffer. Ein paar andere Gepäckstücke, die sie mitnehmen wollte, wurden innen verstaut.
Früher am Morgen hatte sie von Eros tränenreichen Abschied genommen, aber jetzt, als sie Johnson und seiner Frau die Hand schüttelte, war es Mrs. Johnson, die weinte.
»Geben Sie nur gut auf sich acht, Schätzchen - ich meine, Miss Nolita«, schluchzte Mrs. Johnson, »und machen Sie sich um uns keine Sorgen. Wir werden das Haus ebenso gut in Ordnung halten wie zur Zeit Ihrer lieben Mutter - Gott habe sie selig -, und Sie werden zu uns zurückkommen, fast noch bevor Sie abgereist sind.«
Johnson nahm nur Nolitas Hände in seine beiden Hände. Er fand keine Worte.
Nach einem letzten Blick in Richtung Stall stieg Nolita in den Wagen.
Die Kutsche rollte an. Nolita winkte zu den Johnsons zurück und warf einen letzten Blick auf das Giebelhaus, das ihr ganzes Leben lang ihre Heimat gewesen war. So mußten die Aristokraten während der Französischen Revolution empfunden haben, wenn sie auf Schinderkarren weggebracht wurden!
Das Haus in London war genauso, wie sie es sich vorgestellt hatte: hoch, eindrucksvoll und ziemlich düster. Es stand eine offensichtlich unnötig hohe Zahl von Dienern in der Kennington-Livree herum, dazu ein Butler, der wie ein Erzbischof aussah und auch so redete. Er meldete Nolita mit Stentorstimme an.
Ihre Tante saß im Salon auf einem Sofa und sprach mit einem jungen Mann, den ein Monokel zierte. Mit gereiztem Gesichtsausdruck blickte sie auf.
»Du kommst aber früh!« schnappte sie, als halte sie es für eine persönliche Beleidigung. Nolita trat vor und knickste.
»Geh nach oben und packe aus. Ich komme später zu dir.«
Nolita knickste von Neuem und folgte dem Butler, der vor der Tür gewartet hatte.
Erst als sie die Tür schloß, hörte sie den Herrn mit dem Monokel sagen: »Beim Zeus, ist das ein hübsches kleines Ding! Wer ist sie?«
Diese Bemerkung, so dachte Nolita, mochte schuld an der schlechten Laune ihrer Tante sein, die eine halbe Stunde später nach oben in Nolitas Schlafzimmer kam.
»Ich hätte angenommen«, sagte sie kalt, »daß du Verstand genug haben würdest, Hut und Mantel abzulegen, bevor du den Dienstboten erlaubtest, dich im Salon anzumelden, wo ich mit einem Besucher saß.«
»Es tut mir leid, Tante Katherine«, entschuldigte Nolita sich, »aber ich wußte nicht, was von mir erwartet wurde.«
»Nun, jetzt weißt du es.«
Lady Katherine sah in einem Gewand aus hellblauer Seide, das farblich zu ihren Augen paßte, sehr attraktiv aus, nur war es etwas zu jugendlich für sie.
Sie musterte Nolita von oben bis unten.
»Für deine äußere Erscheinung werde ich wohl etwas tun müssen. Im Augenblick siehst du aus wie ein arbeitsloses Hausmädchen.«
»Oder ... eine ... arme Verwandte«, entfuhr es Nolita, bevor sie es hinunterschlucken konnte.
»Genau das bist du auch, und vergiß nicht, dankbar zu sein«, gab Lady Katherine zurück. »Ich habe mir sehr viel Mühe gemacht, ein Unterkommen für dich zu finden, und zu meiner Freude habe ich bereits einen begeisterten Brief von der Marquise erhalten. Wie ich es voraussah, möchte sie dich so bald wie möglich in Sarle-Park sehen.«
»Was ist der Grund für diese Eile?« fragte Nolita neugierig.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, antwortete Lady Katherine, »aber zweifellos wird dir jemand diese Frage beantworten, sobald du dort bist.«
Ihr Blick hing immer noch an Nolitas Kleid.
»Ich habe nicht die Absicht, Geld auszugeben, um dir neue Kleider zu kaufen, und ich sage dir klipp und klar, daß ich keine Trauer um deine Mutter tragen oder auch nur gegenüber meinen Freundinnen zugeben werde, daß sie gestorben ist.«
Nolita riß vor Staunen die Augen auf, und Lady Katherine fuhr fort: »Wäre ich in Trauer, könnte ich an den vielen Veranstaltungen dieser Saison nicht teilnehmen, und ich denke nicht daran, darauf zu verzichten. Du wirst deshalb nirgendwo erwähnen, daß deine Mutter vor kurzem gestorben ist - vor allem bei der Marquise nicht.«
»Was wird sie dann denken, warum ich... eine Stellung suche?« fragte Nolita.
»Sie weiß, daß du Waise bist, hält jedoch die Trauerzeit für beendet.«
Nolita wunderte sich. Sie fühlte sich auch verletzt, weniger durch Lady Katherines Wunsch, sie solle über den Tod ihrer Mutter lügen,