Das Erdbeben in Chili von Heinrich von Kleist: Reclam Lektüreschlüssel XL. Mathias Kieß
und so beschließt er, zeitgleich mit seiner Geliebten durch die eigene Hand zu sterben.
(3) Wie Jeronimo das Erdbeben erlebt (S. 6, Z. 31 – S. 9, Z. 27)
Die Vorgeschichte geht sanft und ohne klaren Schnitt in die Gegenwart der Erzählung über. Nur durch das Textsignal »wie schon gesagt« (S. 6) bemerken die Leserinnen und Leser, dass nun wieder die Situation des ersten Satzes erreicht ist. Dieser erste Satz hätte an dieser Stelle stehen müssen, wenn der Erzähler sich an die chronologische Reihenfolge der Ereignisse gehalten hätte. Da er jedoch am Anfang steht, dient er als Vorausblende.
Zu Beginn des Erdbebens setzt sich der Überlebensinstinkt Jeronimos gegen seinen Todeswunsch durch und er klammert sich an den Pfeiler, an dem er sich eigentlich erhängen wollte (S. 7). Aus dem zerstörten Gefängnis kann der Häftling nach draußen flüchten.
Anschließend beschreibt der Erzähler das Darstellung des ErdbebensErdbeben und wie es Jeronimo glückt, aus der Stadt zu entkommen. Es gelingt dem Autor durch zahlreiche Personifikationen und zwei parallel gestaltete Sätze, die Gleichzeitigkeit und die Grausamkeit zahlreicher Einzelbeobachtungen darzustellen (S. 7); eine genaue Analyse folgt in Kapitel 4 (S. 57–59).
Außerhalb der Stadt sinkt Jeronimo für eine Viertelstunde bewusstlos nieder. Als er aufwacht, stellt er seine Jeronimo kommt mit dem Leben davonUnversehrtheit fest. Glücklich genießt er die blühende Landschaft, die St. Jago umgibt. Einzig die »verstörten Menschenhaufen« (S. 8) stören die Idylle. Er dankt Gott für sein Leben und beginnt vor Glück zu weinen. Als er sich an Josephe und die geplante Hinrichtung erinnert, ändert sich seine Einstellung Gott gegenüber zum Negativen: »fürchterlich schien ihm das Wesen, das über den Wolken waltet« (S. 8). Sofort begibt sich Jeronimo auf die Suche nach seiner Geliebten.
Obwohl eine Passantin auf die Nachfrage, ob die Hinrichtung vollzogen wurde, behauptet, Josephe sei enthauptet worden, Suche nach Josephesucht Jeronimo nach kurzem Wanken unbeirrt weiter (S. 8 f.). Die Wege um die Stadttore sind mittlerweile voller Menschen, die sich aus der Stadt retten. Andere haben sich bereits vor der Stadt niedergelassen. Jeronimo sucht die gesamte Umgebung ab, und als die Sonne schon wieder unterzugehen droht, findet er Josephe, die gerade ihr gemeinsames Kind Philipp in einer Quelle wäscht (S. 9). Sie umarmen sich glücklich.
(4) Wie Josephe das Erdbeben erlebt (S. 9, Z. 28 – S. 11, Z. 8)
Nun durchbricht der Erzähler ein zweites Mal die chronologische Reihenfolge der Ereignisse und springt einige Stunden in die Vergangenheit, indem er berichtet, wie die zweite Hauptfigur das Erdbeben er- und überlebt.
Josephe befindet sich auf dem Weg zum Richtplatz, als das Erdbeben einsetzt. Die Prozession wird durch das Beben auseinandergesprengt, und sie flüchtet Richtung Stadttor, als sie sich an ihren Josephe rettet ihren SohnSohn Philipp erinnert, der noch im Kloster ist. Sie findet das Kloster in Flammen vor, und die Äbtissin schreit um Hilfe, da das Baby noch im Inneren ist. Unerschrocken geht Josephe in das Klostergebäude und rettet das Baby aus Flammen und Rauch.
Anschließend muss sie mit ansehen, wie die Äbtissin und einige Schwestern unter Trümmerteilen begraben werden. Die junge Mutter bleibt kurz zurück, um der Klostervorsteherin die Augen zu schließen. Auf ihrer Flucht aus der Stadt findet sie die Die am Prozess Beteiligten sind totLeiche des Erzbischofs (S. 10) – er hat Josephe zuvor den Prozess gemacht (S. 5). Auch die Gebäude, die ihren Leidensweg verdeutlichen, sind zerstört: das väterliche Haus, das Kloster, die Kathedrale des Erzbischofs, der Palast des Vizekönigs und der Gerichtshof, in dem das Urteil gesprochen wurde (S. 10).
Während die eben erwähnten zerstörten Gebäude in rascher Folge aufgezählt werden, erhält das zerstörte Auch das Gefängnis ist zerstörtGefängnis mehr Raum in der Erzählung: Zunächst sinkt Josephe nieder, da sie davon ausgeht, ihr geliebter Jeronimo liege unter den Trümmern begraben. Doch dann wird sie sich bewusst, dass dieser Schluss nicht notwendigerweise wahr sein muss. An einer Gabelung wartet sie auf Jeronimo. Mit der Zeit gibt sie die Hoffnung jedoch auf und begibt sich in ein »dunkles, […] beschattetes Tal«, in dem sie auf Jeronimo trifft und das für sie so zum »Tal von Eden« (S. 11) wird.
(5) Liebesglück und soziale Utopie (S. 11, Z. 9 – S. 15, Z. 23)
Geschickt leitet Kleist wieder in die Gegenwart der Erzählung über: »Dies alles erzählte sie jetzt voll Rührung dem Jeronimo« (S. 11). Sie verbringen die erste Nacht nahe der Quelle, an der sie sich wiedergefunden haben, und denken darüber nach, »wie viel Elend über die Welt kommen musste, damit sie glücklich würden« (S. 11). Bevor sie im Morgengrauen einschlafen, entscheiden sie sich, schnellstmöglich in die nahegelegene Hafenstadt La Conception zu reisen, um von dort aus nach Spanien einzuschiffen, wo Jeronimos Verwandte wohnen. Das Liebespaar scheint sich also bewusst, dass sein Glück nur so lange anhält, wie die Wirren des Erdbebens die Stadt im Griff haben.
Am nächsten Tag passiert etwas Unerwartetes. Das junge Liebespaar wird in eine Familiengemeinschaft eingeführt: Als Don Fernando Ormez und seine FamilieDon Fernando Ormez, ein angesehener Bürger der Stadt, fragt, ob sein Sohn Juan an Josephes Brust gesäugt werden könne, da seine Frau Donna Elvire schwer verletzt sei, gibt Josephe ihre Zustimmung (S. 12). Schnell lernen sie beim Frühstück auch den Rest der Familie kennen. Das sind Don Pedro, Fernandos Schwiegervater, und dessen drei Töchter; die eben erwähnte Donna Elvire mit ihrem Säugling Juan, sowie Donna Elisabeth und Donna Constanze. Rasch entwickelt sich eine Vertrautheit zwischen dem wiedervereinten Liebespaar und der Familie. (Eine Übersicht über die Familie findet sich auch im Figurenverzeichnis des dritten Kapitels dieses Lektüreschlüssels, S. 26.)
Immer wieder wird betont, mit welcher Freundlichkeit (S. 12) die Stimmung der Überlebenden untereinanderÜberlebenden miteinander umgehen und wie liebreich (S. 13) ihre Blicke sind. Nur Donna Elisabeth schaut bisweilen verträumt auf Josephe. Sie war von einer Freundin zur Hinrichtung von Josephe eingeladen worden, ist dem Spektakel jedoch ferngeblieben.
Aus der Stadt wird von Unfrieden und Gewalt berichtet: So beschwören Geistliche das Ende der Welt, und der Vizekönig hat Galgen errichten lassen, um Plünderern Einhalt zu gebieten. Da für gerichtliche Verfahren und der damit einhergehenden Wahrheitsprüfung der Anschuldigungen keine Zeit ist, sind auch Unschuldige der Anarchie und Lynchjustiz in der StadtLynchjustiz zum Opfer gefallen. So findet ein Mann den Tod, der sich durch ein brennendes Haus zu retten versucht, weil dessen Besitzer ihn für einen Dieb hält (S. 13). Auch anarchische Tendenzen sind zu erkennen: Bewohnerinnen und Bewohner behaupten, »es gäbe keinen Vizekönig von Chili mehr!« (S. 13).
Nicht nur innerhalb der Familie, sondern unter allen Überlebenden, die außerhalb der Stadt verweilen, ist die Stimmung trotz oder gerade wegen des erlebten Unglücks positiv. Was der Erzähler beschreibt, gleicht einer Eine soziale Utopie?sozialen Utopie: Der »menschliche Geist« gehe »wie eine schöne Blume« (S. 14) auf und das Unglück habe alle »zu einer Familie gemacht« (S. 14). Die Ständegesellschaft scheint überwunden, wenn »Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Klosterfrauen« (S. 14) nebeneinanderliegen und sich gegenseitig helfen. Die oberflächlichen Gespräche, die man sonst beim Teetrinken führt, weichen nun Erzählungen von echtem Heldentum, und es gibt nicht eine einzige Figur, die nicht Großes erlebt oder geleistet hat (S. 14).
Josephe pflegt währenddessen die Wunden von Donna Elvire (S. 13). Die beiden Frauen kommen dabei ins Gespräch, und Josephe lässt sich vom optimistischen Geist der anderen anstecken und Josephe öffnet sich Elvire?erzählt möglicherweise, dass sie die verurteilte Straftäterin ist und wie ihre kleine Familie wieder zusammengefunden hat. Der Erzähler bleibt hier vage: »Und da Josephe ihr, mit beklemmten Herzen, einige Hauptzüge davon angab« (S. 13), ergriff Donna Elvire »ihre Hand und drückte sie, und winkte ihr, zu schweigen« (S. 14). Auch wenn die Leserinnen und Leser nicht explizit erfahren, wie viel Josephe von sich preisgibt, so wird doch angedeutet, dass Elvire darum weiß, dass es sich bei ihrer Gesprächspartnerin um die zum Tode Verurteilte Josephe handelt.
Jeronimo und Josephe sind von der Stimmung unter den Menschen im Tal vor der Stadt so überwältigt, dass sie ihren Jeronimo gibt Fluchtplan aufFluchtplan noch einmal