Sehnsucht Australien. Jürgen Bertram

Sehnsucht Australien - Jürgen Bertram


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      Helga und Jürgen Bertram

      Sehnsucht

      Australien

      Vom Abenteuer des Auswanderns

      Saga

      Vorwort

      Im Obsthain leuchteten pralle Äpfel und Birnen in der Vorabendsonne. Von den Ästen eines Eukalyptusbaumes beäugten uns, in einer Mischung aus Argwohn und Neugier, weiße Kakadus. Von einer Koppel wehte heiteres Wiehern herüber. An der Hauswand rankten sich, als Sinfonie aus Farben und Düften, die Blumen des späten Sommers empor.

      Es war einer dieser Momente, in denen man sich in Australien verlieben kann. Und da das ein paar Hundert Kilometer westlich von Sydney gelegene Grundstück, auf dem uns dieses Land während einer Drehreise für ein Fernsehfeature wieder einmal bezirzte, preiswert zu haben war, dachten wir: Hier könnte man sich ein Domizil einrichten – zunächst für die Ferien und später für den Lebensabend.

      Es siegten, typisch deutsch, die Bedenken. Ist unser Journalistenberuf, so fragten wir uns, nicht zu stark an unsere Heimat und ihre Sprache gebunden? Und würden die durch unsere lange Korrespondentenzeit in Asien ohnehin schon brüchigen Bande zu unseren deutschen Freunden nicht endgültig zerrissen? So blieben wir Auswanderer im Geiste, verbrachten aber auch, zählt man alle Reisen zusammen, insgesamt etwa zwei Jahre auf der größten Insel der Welt. Die Ergebnisse sind, außer einem unbezahlbaren Schatz an Erinnerungen, vier Bücher und sechs filmische Dokumentationen.

      Unser neuester Report würdigt jene Deutschen, die mutiger waren als wir und sich der Herausforderung Australien konsequent stellten. Manche stöberten wir in der ständig von Dürre und Fluten bedrohten Wildnis des Outbacks auf oder in den Regenwäldern im Hinterland der grandiosen Küsten. Mit anderen dinierten wir in den Restaurants der kosmopolitischen Metropolen. Oft half uns der gezielte Blick in die Branchenadressbücher, in denen zum Beispiel deutsche Handwerksbetriebe auffallend häufig vertreten sind.

      Als immenser Vorteil erwies es sich, dass Menschen, die das Wagnis der Auswanderung eingehen, automatisch spannende Geschichten zu erzählen haben und dass ihr Mitteilungsbedürfnis offenbar mit der geografischen Distanz zu ihrer Heimat wächst. Zu mehr als hundert Stunden summieren sich auf unseren Tonbändern die Interviews, die wir auf unserer dreieinhalb Monate und 14000 Autokilometer langen Reise führten.

      Eine unserer wichtigsten Erkenntnisse: Der enorme Einfluss, den deutsche Immigranten auf die australische Gesellschaft hatten und noch immer haben, wird hierzulande, vermutlich wegen der Fixierung auf Amerika, noch viel zu wenig gewürdigt. Dies nachhaltig zu ändern, ist eines der Ziele unseres Buches.

      Hamburg, Anfang 2009

      Helga und Jürgen Bertram

      I Taifune und Träume

      Die Pioniere des Nordens

Illustration

      1 »Wenn man in Not ist, dann kommen die Engel«

      Eine deutsche Karriere in Darwin

      Darwins Erkennungsmelodie sind die Geräusche seiner abertausend Palmen: Ein Säuseln, wenn – piano – nur ein Lüftchen geht, ein Rascheln im Allegro eines tropischen Windes, ein Knistern und Knarzen im Fortissimo der Stürme, die sich wie aus dem Nichts über der Timor Sea aufbauen und das beschwingte Fächerspiel der Zweige im Nu zum Veitstanz peitschen. Dazu trommelt dann – plopp, plopp, plopp – der dumpfe Rhythmus der zu Boden fallenden Kokosnüsse.

      So muss es in dem Hain an der Meerespromenade geklungen haben, bevor ein Taifun namens »Tracy« in der Nacht nach Heiligabend 1974 mit einer Spitzengeschwindigkeit von 280 Kilometern in der Stunde fast die komplette Hauptstadt des australischen Northern Territory flachlegte. 66 Menschen starben, 36 000 wurden evakuiert. Nach den japanischen Bombenangriffen von 1942 war es der zweite Schock in Darwins gerade mal hundertjährigen Geschichte.

      Harry Maschke, geboren am 6. Juni 1936 in Groß-Bölkau bei Danzig, hat die Katastrophe miterlebt. »Ich lag gerade in der Badewanne, als das Dach wegflog«, erinnert er sich. »Mir fiel sofort das deutsche Paar ein, das bei mir zu Gast war. Die Frau hielt sich an einem Pfeiler auf der Empore im oberen Stockwerk fest und schrie um Hilfe. Die Treppe war bereits eingestürzt. ›Spring!‹, befahl ich ihr. ›Spring!‹ Sie sprang – und landete in meinen Armen. Danach habe ich mein Gedächtnis verloren. Aufgewacht bin ich drei Tage später in meinem Wochenendhaus am Adelaide River. Wie ich die mehr als hundert Kilometer mit dem Auto geschafft habe, das ist mir bis heute ein Rätsel.«

      Turbulenzen, heftige wie moderate, prägen die Lebensgeschichte des Auswanderers, der im feuchtheißen Norden Australiens eine neue Heimat fand. Das Temperament, mit dem er uns in der künstlich gekühlten Lobby unseres Hotels die ersten Kapitel dieser Lebensgeschichte erzählt, ist das beste Mittel gegen den Jetlag, der uns nach siebzehnstündigem Flug zusetzt.

      Die filmreife Story beginnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Hassendorf, einem Flecken im Osten Schleswig-Holsteins. Dorthin hat es die Familie Maschke nach ihrer Flucht aus Westpreußen verschlagen. Der Vater, vom Landwirt zum Waldarbeiter abgestiegen, wird eines Tages vom Klassenlehrer seines Sohnes mit einer Auffälligkeit konfrontiert, die den Pädagogen mehr stört als begeistert. »Ich habe nichts gegen Neugier«, klagt er. »Aber Harry ist mir zu neugierig. Der will wirklich alles wissen. Mir geht das allmählich auf die Nerven.«

      Als der Vierzehnjährige die Volksschule verlässt, weiß er vor allem eins: Eine Perspektive kann ihm Hassendorf nicht bieten. Ein Gymnasium mit anschließendem Studium kommt für ein Kind aus der Unterschicht, und sei es noch so begabt und wissbegierig, auch nicht in Frage. Da er sich nicht als Hilfskraft auf einem der Bauernhöfe verdingen will, setzt sich Harry Maschke in den Zug und fährt nach Dortmund, in eines der Zentren des Ruhrgebiets. Im industriellen Herzen der Bundesrepublik zeichnen sich die ersten Konturen des Wirtschaftswunders ab. »Ja, und da stand ich nun auf dem Dortmunder Bahnhof. Ich hatte ein paar Mark in der Tasche, aber kein konkretes Ziel. Mir war nur klar: Irgendwo in dieser Stadt wartet eine Chance auf dich. Während ich den nächsten Schritt überlegte, kam eine ältere Frau auf mich zu. ›Dir sieht man an‹, sagte sie, ›dass du nicht von hier bist. Komm, ich bring’ dich in ein Lehrlingsheim.‹«

      Weil er sofort eine Lehrstelle als Klempner und Feinblechner findet, kann er in der Herberge bleiben. Schon kurz nach der Abschlussprüfung befördert ihn sein Betrieb, der 300 Leute beschäftigt, zum Vorarbeiter. Auf Baustellen in Bayern und in Holland bekommt der blutjunge Aufsteiger die damals noch rigiden Gesetze der Hierarchie zu spüren: An der Basis hält man zusammen, an der Spitze hat man Entscheidungsfreiheit. Wer dazwischen agiert, bekommt Druck von beiden Seiten.

      Ein junger Mann von gut zwanzig, der sich mit dem Platz zwischen den Stühlen nicht zufriedengibt und auch etwas von der Welt sehen will, ist anfällig für Angebote. Das attraktivste kommt aus Australien, das in den fünfziger Jahren noch immer unter dem Schock des Zweiten Weltkriegs steht, in dem es an der Seite Großbritanniens kämpfte. Mit ihren nur sieben Millionen Einwohnern, so die Befürchtung, könnte eine Insel, die geografisch gut zwanzigmal größer ist als die Bundesrepublik, neuen Angriffen nicht trotzen. Und da man gleichzeitig Arbeitskräfte für die Industrialisierung des Landes benötigt, lenkt man das Augenmerk auch auf das Potenzial des ehemaligen Feindes Deutschland. Zunächst gibt man den Opfern eine Chance, die den Naziterror in den Gefangenenlagern überstanden haben. Wenig später wirbt man, Pragmatismus über moralischen Rigorismus stellend, auch um das Volk der Täter. »Australien ruft!«, heißt es in großflächigen Zeitungsannoncen.

      Harry Maschke entschließt sich 1959, dem Lockruf zu folgen. »Wenn ich jetzt nicht gehe«, sagt er sich, »gehe ich nie.« Der australische Staat checkt seine Gesundheit, verpflichtet ihn für ein Jahr und finanziert ihm die Überfahrt. Am 23. Dezember, dem Geburtstag seiner Mutter, legt sein Schiff, das den verheißungsvollen Namen »Castel Felice« trägt, mit mehr als tausend Passagieren in Bremerhaven ab. »Nicht nur der Himmel«, erinnert er sich, »hat an diesem Tag geweint.«

      Die sechswöchige Seereise endet in Fremantle, einem Immigrantenhafen an der australischen Westküste. Auf der mehr als 3000 Kilometer langen Zugfahrt


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