Die freudlose Gasse. Hugo Bettauer

Die freudlose Gasse - Hugo Bettauer


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Hotel Bristol, wo ich mir ein Zimmer nehmen werde, erwarten. Mein Heim betrete ich nie wieder.“

      Erschüttert wandte sich Demel ab, um den Wunsch des Freundes zu erfüllen. Wäre auch ohne diese Aufforderung nach der Mordstätte geeilt, denn schon regte sich der Journalist in ihm, der Zeiten- und Sittenschilderer, dem dieser Mord Symbol und Mysterium zugleich zu sein schien.

      Als Otto Demel eines der für die Gäste bereitgestellten Automobile bestieg, um nach der Melchiorgasse zu fahren, drängte sich Egon Stirner an seine Seite.

      „Bitte, Herr Redakteur, nehmen Sie mich mit! Ich bin so erschüttert, daß ich es gar nicht in Worten ausdrücken kann. Diese liebe, schöne, lebenslustige Frau — gestern noch habe ich mit ihr und Doktor Leid im ‚Imperial‘ gespeist und heute — nein, es ist nicht auszudenken.“

      Das Auto sauste schon die Währingerstraße abwärts. Gedankenlos fragte der Journalist:

      „Sind Sie mit den Leids gut bekannt?“

      „Mein Gott, gut bekannt? Vor ein paar Wochen, an einem schönen Septembertag, lernte ich sie in der Krieau in Gesellschaft unseres Generaldirektors und dessen Gattin kennen und bin seither noch etlichemale mit ihnen zusammengetroffen. Öfters eigentlich mit Frau Lia, die als leidenschaftliche Tänzerin nachmittags immer im Pavillon, im Tabarin oder Bristol zu treffen war. Nun, da ich auch gern tanze, verbrachte ich oft eine Stunde in ihrer Gesellschaft.“

      „Da würden Sie ja, falls die Ermordete wirklich mit Frau Lia identisch sein sollte, vielleicht einiges zur Eruierung des Mörders beitragen können. Der Kreis, in dem man ihn zu suchen hat, kann nicht allzu groß sein. Sicher ein Mann, äußerlich wenigstens der guten Gesellschaft angehörend, sicher einer, der, wie Sie, mit ihr getanzt hat.“

      Das Auto nahm scharf die Kurve in die Schwarzspanierstraße und es verging wohl eine Minute, bevor Stirner zögernd antwortete.

      „Natürlich umringte immer eine ganze Schar von Männern die schöne Frau. Einige von ihnen kenne ich, viele waren Ausländer, die mir nicht einmal dem Namen nach bekannt sind. Und dann: Frauen pflegen ihre Geheimnisse gut zu hüten — — —“

      Das Automobil war in der Melchiorgasse angelangt und hielt vor dem Haus Nr. 55, vor dem trotz der vorgerückten Nachtstunde eine große Menschenmenge angesammelt war.

      Beklommen murmelte der Journalist:

      „Der Polizeipräsident ist da. Ich kenne seinen Wagen. Natürlich, es handelt sich ja um einen sensationellen Fall.“

      Vor dem geschlossenen Haustor, das von zwei Polizisten bewacht wurde, verabschiedete sich der Bankbeamte von dem Journalisten.

      „Ich habe hier ja nichts zu tun. Ich gehe ins Café Payr und wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie nachher einen Sprung hinein machen würden. Sie können sich denken, daß ich mehr als gespannt bin.“

      Demel nickte und bekam nach Vorweisung seiner Legitimation ohneweiters Einlaß in das Haus und in die Wohnung der Frau Merkel. Und schon stand er in dem Zimmer, in dem der Mord geschehen war.

      Die Leiche lag auf dem Diwan und war jetzt mit einem Leintuch bedeckt, um den Tisch herum saßen der Polizeipräsident, der Chef der Sicherheitspolizei, Hofrat Schmitz, ein Protokollschreiber, der Polizeiarzt, neben dem Tisch stand zwischen zwei Detektivs Frau Merkel mit von Weinen geschwollenen Augen.

      Demel begrüßte die ihm wohlbekannten Herren und sagte hastig:

      „Ich komme nicht nur als Journalist, sondern auch, um vielleicht Aussagen machen zu können. Ist die Ermordete schon identifiziert?“

      „Nein,“ erwiderte Hofrat Schmitz. „Es handelt sich zweifellos um eine Dame der großen Gesellschaft, das beweisen die kostbaren Kleider und der Pelz. Das Taschentuch der Ermordeten ist mit LL gemerkt, mehr aber wissen wir noch nicht.“

      Demel atmete tief auf.

      „Das genügt, und wenn Sie mich noch einen Blick auf die Unglückliche werfen lassen, so werde ich Ihnen sagen, wer sie ist.“

      Auf einen Wink des Präsidenten schlug ein Beamter das Tuch zurück. Und vor dem Journalisten lag fast nackt, nur mit einer über die Büste herabgezogenen Kombination aus durchsichtiger schwarzer Seide bekleidet, die Leiche Lia Leids. Der Mund wie zum Schrei geöffnet, die Hände zur letzten Abwehr erhoben, die feurigen Augen gebrochen, ein Bild des Jammers und Grauens und doch noch im Tode schön.

      Demel senkte das Haupt vor der Leiche, faltete die Hände wie zum Gebet. Totenbleich wandte er sich wieder der Kommission zu.

      „Meine Herren, die Ermordete ist Frau Lia Leid, die Gattin meines Freundes, des auch Ihnen wohlbekannten Rechtsanwaltes Doktor Heinrich Leid.“

      Ein Ausruf des Entsetzens entrang sich dem Präsidenten und dem Hofrat. Mit einem Blick auf den Chef der Sicherheitspolizei murmelte der Polizeipräsident:

      „Das ist furchtbar! Ganz Wien wird auf sein. Wir müssen den Mörder um jeden Preis rasch entdecken.“ Und zu einem der Unterbeamten:

      „Veranlassen Sie, daß in den Morgenstunden schon auf allen Plakatsäulen eine Belohnung von zehn Millionen Kronen als Ergreiferprämie angekündigt wird.“

      Demel lächelte skeptisch. Immer die alten Methoden, dachte er, das bewährte Klischee. Als wenn in diesem Fall der Mörder Spießgesellen gehabt hätte, die ihn verraten könnten! Und dann laut: „Dürfte ich bitten, mir zu sagen, was bisher festgestellt wurde?“

      „Sicher, Herr Redakteur, vielleicht können Sie uns sogar manch guten Wink geben. Frau Merkel, jetzt, da Sie genug geheult haben, werden Sie wohl alles, was Sie wissen, im Zusammenhang nochmals erzählen können. Zu bemerken ist, daß Frau Merkel ein Zimmer ihrer Wohnung, die aus zwei Zimmern und Küche besteht, als Absteigequartier zu vermieten pflegt. Na, wir wollen ihr das nicht allzusehr ankreiden. Also los, Frau Merkel.“

      Frau Barbara Merkel, die aus den letzten Worten des Präsidenten ein gewisses Wohlwollen herausfühlte, trocknete endgültig ihre Tränen und begann weitschweifig zu erzählen, „wie sie als arme Witwe gezwungen sei, das größte Zimmer an feine Herrschaften zur gelegentlichen Benützung zu vermieten. Am letzten Sonntag habe sie nun im „Tagblatt“ annonciert und ihr hochelegantes, ungeniertes Absteigequartier vornehmen Herrschaften empfohlen. Vorgestern, also Dienstag, spät abends sei ein großer Herr gekommen, um wegen des Zimmers zu sprechen. Sie wisse nur, daß er einen Kneifer und einen schwarzen Spitzbart gehabt habe. Genau konnte sie ihn nicht sehen, da er, als sie im finsteren Vorzimmer das Licht andrehte, es selbst abgedreht und gesagt habe, er wünsche nicht gesehen zu werden.“

      „Das hat mich nicht gewundert,“ fuhr Frau Merkel fort, „denn die meisten Herrschaften, die ein Absteigequartier brauchen, tun so ängstlich. Ich habe dem Herrn dann das Zimmer gezeigt, aber er betrat es nicht, sondern besichtigte es vom dunklen Vorzimmer aus. Er hat dann gefragt, was das Zimmer koste, weil er es ganz allein für sich haben wolle, obwohl er es nur höchstens zweimal in der Woche am Nachmittag benützen werde. Also, meine Herren, ich bin eine arme ehrbare Witwe und weil die Zeiten so teuer sind, habe ich gesagt, eine Million monatlich. Der Herr hat gleich gezahlt und von mir den Wohnungs- und Zimmerschlüssel bekommen. Ich habe ihm aber gesagt, daß er, wenn er sich nicht polizeilich anmelden wolle, mit seiner Dame immer vor Torsperre um 10 Uhr fortgehen müsse. Ich bin nämlich eine ehrbare Frau, die was keine Unanständigkeiten bei sich duldet.“

      Sämtliche Herren im Zimmer, vom Polizeipräsidenten bis zu den Detektivs, lächelten bei diesen Worten trotz der Tragik der Situation.

      „Was also ist heute geschehen,“ fragte der Polizeipräsident.

      „Heute, so um sieben herum, ist der Herr gekommen, ich habe ihn nicht gesehen, da er nur durch die Türspalte der Küche mit mir gesprochen hat. Er hat gesagt, seine Dame werde gleich kommen und zweimal läuten und er werde selbst öffnen und ich möge mich nicht unterstehen, hinauszuschauen. Richtig hat es bald darauf zweimal geläutet und er hat die Dame in das Zimmer geführt. Ich hab’ durch das Schlüsselloch geschaut, weil ich doch neugierig war, aber es war im Vorzimmer dunkel und so konnte ich nichts sehen. Gegen neun Uhr ist der Herr dann weggegangen


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