Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990. Claus J. Duisberg
nur auf den Mindestumtausch verzichte und Erleichterungen im West-Ost-Verkehr zugestehe, sondern auch selbst einen substantiellen finanziellen Beitrag leiste. Im übrigen seien wir bereit, die bis 1990 in Höhe von 200 Mio. DM festgeschriebene Postpauschale anzuheben, wenn die gesamte Summe zweckgebunden zur Modernisierung des Telefonnetzes der DDR und für die Verbesserung der Verbindungen verwendet werde. 41
Am 20. November begleitete ich Seiters zu dem vereinbarten Gespräch mit Krenz, das im Staatsratsgebäude in Ost-Berlin stattfand 42 . Auf Seiten der DDR saßen neben Außenminister Fischer, Schalck, Neubauer und Seidel vor allem der neue Ministerpräsident Hans Modrow am Tisch, der in starkem Maße das Gespräch führte und deutlich machte, daß die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten künftig nicht mehr wie bisher Sache des Parteivorsitzenden und des Außenministeriums, sondern vor allem des Ministerpräsidenten seien. In seiner ruhigen, pragmatischen, wenngleich etwas weitschweifigen Art wirkte er – nicht zuletzt auch im Gegensatz zu Krenz – solide und in gewisser Weise vertrauenswürdig. Die Probleme der DDR sprach er mit erstaunlicher Offenheit an, wobei er keinen Hehl daraus machte, daß er ihre Dimension selbst noch nicht voll übersah. Jedoch war er sich der Schwere der vor ihm liegenden Aufgabe durchaus bewußt, ebenso der Notwendigkeit, einen neuen Anfang zu machen und dafür vieles auch an den bestehenden Strukturen in Frage zu stellen. Er sagte, daß bis zum nächsten Frühjahr die Verfassung geändert und ein neues Wahlgesetz verabschiedet werden sollte, das die Zulassung aller politischen Parteien und Gruppierungen ermöglichen würde; als Termin für Neuwahlen zur Volkskammer nannte er den Zeitraum zwischen Herbst 1990 und dem Frühjahr 1991.
Sowohl Modrow wie Krenz waren sich wohl darüber im klaren, daß die DDR die dringend benötigte Wirtschaftshilfe, wenn überhaupt, nur von der Bundesrepublik Deutschland erhoffen konnte. Das Werben um Unterstützung durchzog das Gespräch deshalb wie ein roter Faden. Deutlich war auch das Interesse an privaten westlichen Kapitalbeteiligungen in Form von gemeinsamen Unternehmen (Joint-ventures), worüber die DDR möglichst bald im Rahmen einer noch zu bildenden gemeinsamen Wirtschaftskommission sprechen wollte. Krenz betonte zwar immer wieder die Eigenständigkeit der DDR und bezeichnete Bestrebungen zur Wiedervereinigung als nicht aktuell, erkannte zugleich aber die Besonderheiten des deutsch-deutschen Verhältnisses an, das sich nach seinen Worten »von einer Verantwortungsgemeinschaft für den Frieden zu einer Vertragsgemeinschaft für die Beziehungen« entwickeln sollte, eine Formulierung, die Modrow kurz vorher in einer Regierungserklärung am 17. November 43 erstmals gebraucht hatte und die in der Folgezeit in den DDR-Vorschlägen immer wieder aufgegriffen wurde. Die volle Einbeziehung Berlins, bisher stets ein zentrales Problem, wurde von beiden nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt.
Im Verlauf des Gesprächs entwickelte Modrow Vorstellungen für eine umfassende wirtschaftliche Zusammenarbeit, die größere Umweltprojekte, den Ausbau des Verkehrsnetzes und in Verbindung mit Neuverhandlungen über die Postpauschale eine Modernisierung des gesamten Kommunikationssystems der DDR einschließen sollte. Zum Reiseverkehr kündigte Krenz an, daß bis zum 24. November insgesamt 93 Übergänge an der innerdeutschen Grenze und in Berlin geöffnet würden, und erklärte die Bereitschaft zu weitreichenden Erleichterungen im Reiseverkehr, insbesondere durch Wegfall des Mindestumtauschs und der Visagebühren sowie die Erteilung von Mehrfach-Sichtvermerken für das gesamte Gebiet der DDR. Als Gegenleistung verlangte er die Beteiligung der Bundesrepublik an einem Reisefonds durch Übernahme der Kosten für einen Umtausch von 100,- DM pro Reisendem und Jahr zusätzlich zur Weiterzahlung des Begrüßungsgeldes; ferner sollten die Rückfahrkosten bei der Eisenbahn übernommen werden. Unter diesen Voraussetzungen werde die DDR ihrerseits auch die Mittel für den Guthabentransfer aufstocken.
Minister Seiters antwortete unter Bezug auf die Erklärung des Bundeskanzlers im Bericht zur Lage der Nation, daß nämlich die Bundesregierung zu umfassender Hilfe und Zusammenarbeit unter der Voraussetzung eines grundlegenden politischen Wandels und der notwendigen wirtschaftlichen Reformen in der DDR bereit sei. Auch an einem Devisenfonds würden wir uns beteiligen – allerdings zeitlich und der Höhe nach begrenzt und nur, wenn die DDR außer dem Verzicht auf den Mindestumtausch und Erleichterungen im West-Ost-Reiseverkehr bis hin zum Verzicht auf Sichtvermerke ebenfalls einen substantiellen finanziellen Beitrag dazu leiste.
Es wurde vereinbart, die Fragen unter fachlichen Gesichtspunkten weiterzubehandeln, bevor – in der Woche vom 4. Dezember – wieder ein Gespräch auf höherer Ebene stattfinden sollte. Krenz nannte auch bereits einen Termin für das Treffen mit dem Bundeskanzler, und zwar – unter Hinweis auf einen für Mitte Dezember vorgesehenen Parteitag der SED – die Vorweihnachtswoche.
In den folgenden Tagen gab es auf verschiedenen Ebenen informelle Kontakte, insbesondere mit Schalck, wobei schließlich Verhandlungen für den 29. November vereinbart wurden. Zwei Tage zuvor überbrachte Neubauer noch einmal modifizierte Vorschläge der DDR: Sie wollte auf den Mindestumtausch und Visagebühren verzichten und 750 Mio. DM pro Jahr in den Reisefonds einzahlen. Die Bundesrepublik Deutschland sollte ebenfalls 750 Mio. DM und zusätzlich den bisher für das Begrüßungsgeld aufgewendeten Betrag einbringen, womit ein Umtausch von 200,- DM pro Person und Jahr – Kinder unter 14 Jahren die Hälfte – ermöglicht werden sollte; für den Umtausch selbst wurde ein gespaltener Kurs vorgeschlagen. Die DDR erklärte sich ferner bereit, gegebenenfalls ihren Einschuß beim nicht-kommerziellen Zahlungsverkehr von 75 Mio. DM auf 100 Mio. DM zu erhöhen.
Innerhalb der Bundesregierung wurde in intensiven Gesprächen eine Position abgestimmt, die substantielle Erleichterungen im West-Ost-Reiseverkehr mit der Bereitschaft zu einer begrenzten Beteiligung an dem Reisefonds verband. Wir wollten – und zwar unterschiedslos für das Bundesgebiet und West-Berlin – den Verzicht auf Mindestumtausch und Visagebühren, nach Möglichkeit auch den Verzicht auf Sichtvermerke, außerdem sonstige Erleichterungen und eine Generalbereinigung für die Probleme der Flüchtlinge und Übersiedler. Dafür waren wir bereit, auf zwei Jahre eine Umtauschmöglichkeit von einmal jährlich 200,- DM pro Person – für Kinder unter 14 Jahren 100,- DM – zu 65 oder 70 %, allenfalls auch 75 % – was faktisch dem DDR-Vorschlag entsprach – mitzufinanzieren. Ein gespaltener Umtauschkurs – 100,- DM im Verhältnis 1:1, der Rest mindestens 1:4,40 – bei Umtausch wahlweise auf beiden Seiten schien uns akzeptabel. Der Gegenwert in Mark der DDR sollte einvernehmlich für Infrastrukturmaßnahmen, insbesondere für Verkehr und Stadtsanierung verwendet werden. Auch beim Eisenbahnsaldenausgleich wollten wir der DDR entgegenkommen. Beim nicht-kommerziellen Zahlungsverkehr schließlich wünschten wir außer einer Erhöhung des jährlichen Zuschusses der DDR eine einmalige Zusatzleistung von 60 Mio. DM, um bereits aufgelaufene Anträge abzuarbeiten. Bei der Postpauschale war der Finanzminister zu einer vom Postministerium vorgeschlagenen Erhöhung von 200 auf 400 Mio. DM unter der Bedingung bereit, daß der gesamte Betrag zur Modernisierung des Telefonnetzes der DDR und des innerdeutschen Fernsprechverkehrs verwendet würde.
Auf dieser Grundlage verhandelten wir am 29. November unter völliger Geheimhaltung im Bundeskanzleramt mit einer von Schalck angeführten Delegation und erzielten auch weitgehend Einigung. Bei einem weiteren Besuch von Minister Seiters in Berlin sollte in der folgenden Woche das abschließende Ergebnis besiegelt werden. Am 2. Dezember bestätigte Schalck gegenüber Minister Seiters telefonisch das Verhandlungsergebnis.
Kurz darauf aber verließ er zusammen mit seiner Frau die DDR und bat in West-Berlin um Aufnahme. Der Boden war ihm zu heiß geworden, und er befürchtete seine – in der Tat bevorstehende – Verhaftung. In West-Berlin wurde er zunächst vorsorglich in Haft genommen, bevor er Gelegenheit erhielt, Teile seines vielfältigen Wissens dem Bundesnachrichtendienst zu offenbaren.
Seine Flucht setzte beide Seiten in begreifliche Verlegenheit; die DDR ließ uns jedoch wissen, daß es bei dem für die folgende Woche am 5. Dezember vorgesehenen Besuch von Minister Seiters in Ost-Berlin bleiben sollte. Ich war an dem Wochenende bei der Ditchley Foundation in der Nähe von Oxford zu einer schon seit Anfang des Jahres vorbereiteten und nun unerwartet aktuell gewordenen Tagung über die Deutschlandfrage. Seiters rief mich dort an und bat, möglichst vorzeitig zurückzukommen, um vor seinem Besuch noch in Ost-Berlin die Verhandlungen über den Devisenfonds abzuschließen.
Am frühen Nachmittag des 4. Dezember traf ich im Gästehaus des DDR-Außenministeriums mit dem amtierenden Abteilungsleiter Schindler, einem seiner Mitarbeiter sowie einem Vertreter des Innenministeriums