Wo die wilden Maden graben. Nagel
Auf dem Klo trifft man sich und tauscht sich aus: »Na, hast du die ganze Zeit gepennt? Ach, was liest du denn? Wir könnten auch mal wieder einen Film gucken, mal Simon fragen, ob er noch irgendwas Gutes dabei hat. Wie weit ist es eigentlich noch?«
Und: »Ach Mist, ich hab mein Geld vergessen, kannst du mir fünfzig Cent für die Klofrau leihen?«
Ich fühle mich mies, wenn ich an dem Tischchen der Klofrau vorbeigehe und ihrem Blick ausweichen muss, vom schlechten Gewissen geplagt, weil ich kein Geld in die Untertasse lege. Vor einer halben Ewigkeit sind wir mal von Prag nach Wien gefahren, und als wir kurz vor der österreichischen Grenze zum Pissen anhielten, hatte ich keine Münzen dabei. Die Klofrau rannte hinter mir her, hielt mich am Ärmel fest und schrie hysterisch: »Dee-Mark! Dee-Mark!!!« Ich geriet in Panik und rief flehend Mario um Hilfe: »Mario, hast du Geld dabei!« Mario saß auf dem Scheißhaus und schob mir sein Portemonnaie unter der Tür durch. Ich fand ein Zwei-Mark-Stück darin und gab es der keifenden Dame, erst dann ließ sie meinen Ärmel los. Seitdem bin ich etwas traumatisiert und gebe immer was. Seit Neuestem gibt es an immer mehr Raststätten dieses Sanifair-Dingens, wo man fünfzig Cent in einen Automaten werfen muss, bevor die Schranke sich öffnet. Für die fünfzig Cent gibt es einen Gutschein, den man auf den Kopf hauen kann. Pissen für ein Hanuta. Geil. Seit Einführung dieser demütigenden Konstruktion freue ich mich jedes Mal über den Anblick einer guten alten Klofrau.
Und dann: Hunger. Er kommt zur falschen Zeit. So ist das eben, man will immer was, wenn es nichts gibt. Das ist nachts, nach dem Konzert, wenn das Catering längst weggeräumt wurde und die Imbissbuden schon geschlossen haben. Oder eben nachmittags, während der Fahrt, wenn man als Vegetarier zwischen pappigen Raststätten-Pommes und belegten Tankstellen-Brötchen entscheiden kann, beides zu happigen Preisen, beides serviert von unfreundlichen, biestigen Rastplatzangestellten. Sepp bunkert jeden Tag beim Catering Schokoriegel in seiner Tasche und bietet mir während der Fahrt welche an, aber ich kann das Scheißzeug nicht mehr sehen. Also entscheide ich mich für das Brötchen, an dem der Käse dunkelgelb und steinhart raushängt. Es ist eiskalt und schmeckt nach gar nichts. Genausogut könnte ich die Plastikverpackung essen.
Die anderen stehen draußen um einen Coca-Cola-Schirm und saugen schweigend an ihren Zigaretten. Dr. Menke raucht direkt zwei nacheinander. Er ist Anhänger der Theorie, dass man im Voraus rauchen kann. Wenn er jetzt zwei hintereinander wegdampft, überlistet er damit seine Lunge und schlägt mindestens fünfzig Kilometer Fahrt mehr raus, bis sie sich wieder meldet. Wenn er weiß, dass wir in Kürze anhalten, holt er den Tabakbeutel raus und dreht schon mal vor. Während er die Erste raucht, dreht er schon die Nächste.
»Erst mal schön ’nen Böller aufn Zahn rollen!«, raunt er leise, und ich weiß, dass er gerade sehr glücklich ist.
Mit gehörigem Mauldampf wachst du in der Transe auf, eurem eigenen Bandbus, ein zwanzig Jahre alter Ford Transit, der fünfzehn Liter Super mit Bleizusatz schluckt und euer ganzer Stolz ist. Werner liegt neben dir. Ihr wart in der Nacht vorher auf einer Bootsparty, mit der eine befreundete Band ihren neuen Tonträger feierte. Eine schöne Fete. Zweihundert Gäste sind in schicker Abendgarderobe erschienen, das Boot tuckerte ein paar Stunden den Rhein entlang, und es gab einiges zu trinken. Nachher spielte die Band auf dem Boot, und als die ersten Töne ihres derben Hardcoregebretters erklangen, fing eine Bedienstete am Tresen vor Schreck an zu weinen.
Auch ihr seid mit einer stattlichen Anzahl an Leuten angereist. Die meisten nahmen heute Morgen den ersten Zug zurück in die Heimat. Werner und du hattet den Kanal allerdings noch nicht voll und begabt euch auf eine Kneipentour. Irgendwer muss ja schließlich auch die Transe nach Hause fahren, also seid ihr dageblieben und spät nachts zum Bulli gewankt. Im Kofferraum gibt es immer einen großen Vorrat an Schlafsäcken und Decken, die so gammelig sind, dass niemand sie nach einer Tour mit nach Hause nehmen will. Es ist also gar nicht so ungemütlich da hinten.
Es muss gegen Mittag sein. An eurem Parkplatz am Straßenrand rauscht der Verkehr vorbei. Du kannst nicht mehr schlafen. Unterm Rücksitz findest du eine Flasche Cola ohne Kohlensäure, egal, besser als nichts, und sitzt eine Weile da, beschäftigt mit dem Versuch, die letzte Nacht zu rekapitulieren, bis du schließlich Werner aufweckst.
»Ey Alter, wach auf, ich kann nicht mehr pennen!«
»Wass los …?«, murmelt Werner.
»Ich kann nicht mehr pennen. Ist schon zwölf durch, lass uns abhauen hier!«
Nach kurzer Aufweckphase ist Werner zwar prinzipiell einverstanden, sagt aber, dass er noch total besoffen sei und auf keinen Fall fahren könne. Du bist dir deines restalkoholisierten Zustandes durchaus bewusst, aber ein ungeduldiger Typ.
»Na gut, dann fahr ich.«
»Meinst du, dass das so ’ne gute Idee ist?«, fragt Werner. Aber du sitzt schon am Steuer und spulst dein Lieblingsmixtape zurecht. »Little Light« von Jets to Brazil läuft. »Flip the tape, hit rewind …«
Es geschieht hundertfünfzig Meter weiter an einer Kreuzung. Vor dem Verkehrsschild steht ein Baum, sodass du zu spät entdeckst, dass es rechts Richtung Autobahn geht. Die Ampel ist rot, du wirfst einen Blick in den Rückspiegel. Hinter dir scheint niemand zu sein, also setzt du zurück auf die Rechtsabbiegerspur. Du hast nur den Golf übersehen, der dort steht. Toter Winkel, weißt du noch?
Blake Schwarzenbach singt gerade die Zeile »… it’s my turn to drive«, als deine Stossstange krachend auf dem Kotflügel des Golf zum Stoppen kommt. Kein großer Schaden, war ja nur Schrittgeschwindigkeit. Aber als du aussteigst, um den Schaden zu begutachten, hat der Fahrer schon sein Mobiltelefon am Ohr.
»Kein Problem!«, sagt er, »die Polizei ist gleich da!«
»Äh, können wir das nicht auch ohne regeln«, stammelst du, »ich äh, ich habe nämlich getrunken.«
Du wirst dich noch lange fragen, was dich zu dieser Aussage bewogen hat. Vielleicht erschien dir kompromisslose Ehrlichkeit angesichts deiner desaströsen Lage als letzte Möglichkeit, das drohende Unheil abzuwenden. Der Fahrer allerdings setzt sich sofort wieder in seinen Wagen, kurbelt das Fenster hoch und verriegelt die Tür. Du hast gerade Werner losgeschickt, um dir irgendwo Kaugummis zu besorgen – »Oder irgendwas anderes für den Atem!« –, da biegt auch schon der Streifenwagen um die Ecke. Die Polizistin stellt dir eine Frage zum Tathergang, und als du antwortest, rümpft sie die Nase und holt sogleich den Alkometer. Du pustest so sanft wie möglich in das Röhrchen. Es nützt nichts. Sie will dir das Ergebnis nicht mitteilen, hebt aber erstaunt die Augenbrauen und sagt, dass du zum Bluttest mit auf die Wache kommen musst. Wieder einmal.
Ihr sollt im Streifenwagen mitfahren, aber weil die Transe noch halb auf der Straße steht, muss sie weggefahren werden. Zu diesem Zweck wird auch Werner gebeten, einmal zu pusten, und anders als dir wird ihm das Ergebnis sofort mitgeteilt: 0,0 Promille. Du kannst es nicht fassen – erst Benja, jetzt Werner, dazu die dutzenden Geschichten von Bekannten, die volltrunken pusten mussten und anschließend weiterfahren durften – funktionieren diese Dinger denn nur bei dir? Werner erzählt dir später, dass er noch nie so breit am Steuer gesessen hat. Trotzdem schafft er es, den Bulli ohne Auffälligkeiten auf einen nahen Parkplatz zu bugsieren.
Die Prozedur auf der Wache ist dir bereits bekannt.
Du kommst dir vor wie ein alter Hase, ein Ex-Knacki, ein Profiverbrecher. Dein Führerschein wird dabehalten, nach der Blutabnahme könnt ihr gehen. Das heißt, zum Auto gehen, wo ihr eine Weile warten müsst, bis Werner sich nüchtern genug zum Fahren fühlt.
Ungeduldig wartest du in den folgenden Tagen auf das Ergebnis des Bluttests. Mehrmals rufst du bei der Polizeiwache an, bekommst aber nie eine eindeutige Aussage. Nach mehr als einer Woche erreichst du schließlich den zuständigen Beamten.
»0,6 Promille, da haben Sie gerade nochmal Glück gehabt! Der Führerschein ist schon in der Post, unterwegs zu Ihnen!«, bellt er dir freundlich ins Ohr. Du verstehst die Welt nicht mehr. Die Kombination Unfall-unter-Alkoholeinfluss / Immer-noch-Probezeit / Schon-mal-mit-Alkohol-aufgefallen ist doch eigentlich eindeutig: Der Lappen muss mal wieder abgegeben werden.
»Aber das verstehe ich nicht!«, flüsterst du, doch du hast Glück,