Die Erneuerung der Kirche. George Weigel
dem Mensch gewordenen Wort Gottes in den Sakramenten der Kirche anzubahnen. Den Weg, »der alles übersteigt« (1 Kor 12,31), lebt der evangelikale Katholizismus vor, ehe er ihn lehrt; was er aber unermüdlich lehrt, ist vor allem dieses: »Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm« (1 Joh 4,16).
Deshalb werden evangelikale katholische Gemeinden (und ihre Pfarrer) und evangelikale katholische Diözesen (und ihre Bischöfe) ihre Umkehr, ihre Treue und ihre Nachfolge an anderen Kriterien messen, als sie im institutionell verwalteten Katholizismus üblich sind. Wie viele potenzielle Konvertiten die Pfarrgemeinde oder das Bistum eingeladen hat und wie viele dieser potenziellen Konvertiten sich entschlossen haben, dem Weg Jesu, des Herrn, nachzufolgen, gilt im evangelikalen Katholizismus als besserer Gradmesser für die eigene »Performance« als die jährliche Zählung der Gottesdienstbesucher an einem Sonntag X (das Standardverfahren der »Praxismessung« in großen Teilen der katholischen Kirche) – eben weil es ein evangelikaler Gradmesser ist. Und in einer evangelikalen katholischen Gemeinde sind es sowohl die Laien als auch die Kleriker, die diese Fragen stellen und die Antworten auswerten.
Mit den Worten, mit denen Petrus auf die Verklärung Jesu reagiert – »es ist gut, dass wir hier sind« beim Herrn in seiner Herrlichkeit (Mt 17,4) –, fasst das Evangelium alle wichtigen Merkmale der evangelikalen Katholiken zusammen. Die Freude, in der Gegenwart des Herrn zu sein, ist die Dynamik, die der Communio zugrunde liegt, jener einzigartigen Form der menschlichen Gemeinschaft, die die Kirche ist. Ebendiese Freude treibt die, die an dieser Communio teilhaben, dazu an, sie anderen anzubieten. Das ist ihre evangelikale Sendung.
Doch diese Sendung wirklich zu leben heißt, sich Rechenschaft darüber zu geben, weshalb sich die Kirche in solch großen Teilen der westlichen Welt in einer Periode der Trockenheit befindet. Und damit sind wir wieder bei der Frage nach der Wahrheit.
Die Folgen der Untreue
Wenn die von Grund auf reformierte Kirche, auf die sich die katholische Entwicklung von Leo XIII. bis hin zu Benedikt XVI. kontinuierlich zubewegte und die das Zweite Vatikanische Konzil sich vorstellte, durch einen kraftvollen, durch Wort und Sakrament geformten evangelikalen Katholizismus verkörpert wird, der das Evangelium der Wahrheit und Liebe »auf das tiefe Wasser« der modernen und postmodernen Welt hinausträgt, dann müssen wir als nächstes den großen Schiffbruch des nachkonziliaren Katholizismus in den Blick nehmen: den Zusammenbruch der Kirche in Westeuropa, dem historischen Kernland des Christentums.
Der Niedergang des westeuropäischen Katholizismus war, so viel ist klar, nicht das Ergebnis eines Bruderkriegs zwischen progressistischen und traditionalistischen Katholiken. Und es ist auch nicht wahrscheinlich, dass das Erfolgsrezept für eine künftige Wiederbelebung und Reform aus einem dieser beiden abgekämpften Lager kommen wird. Die Kirche in Europa befand sich in den Jahren nach dem Konzil in freiem Fall, weil viele ihrer Mitglieder nicht mehr an die Wahrheit des Evangeliums glaubten. Die Krise des Katholizismus in Europa rührt nicht daher, dass die institutionelle Kirche ins Wanken geraten wäre und die Gläubigen ihr daraufhin den Rücken gekehrt hätten. Die Krise rührt daher, dass die Menschen in der Kirche (einschließlich des Klerus) aufgehört haben, mit Leidenschaft und Überzeugung zu glauben und sich an der Gegenwart des Herrn zu freuen, und dass sie stattdessen begonnen haben, ihr Glück anderswo zu suchen. Deswegen geriet die Institution ins Wanken und scheint nun, im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts, vor dem Zusammenbruch zu stehen. Die katholische Zukunft Europas liegt nicht in Reformen auf der Führungsebene (obwohl auch diese notwendig sind), sondern in einem erneuten Aufleben des Glaubens, das (wie so oft) vermutlich nicht aus den formalen Strukturen des katholischen Lebens (das heißt in Pfarrgemeinden und Bistümern), sondern aus den Erneuerungsbewegungen und neuen katholischen Gemeinschaftsformen kommen wird. Dort ist die Vision des evangelikalen Katholizismus lebendig. Und wenn diese Vision den echten Eingebungen des Heiligen Geistes folgt und eine kritische Masse erreicht, dann kann sie letztendlich auch die institutionelle Kirche reformieren und verwandeln.
Dieses gleiche evangelikale katholische Prisma wirft auch ein Licht auf die Frage, weshalb die tiefgreifende katholische Reform in den Vereinigten Staaten ins Stocken geraten ist, wo mittlerweile – obwohl die Situation in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts besser zu sein scheint als in Europa – beunruhigende Anzeichen zu beobachten sind. Auch in den Vereinigten Staaten ist der Glaube das eigentliche Problem. Eine tiefgreifende katholische Reform in den Vereinigten Staaten wird durch Bischöfe, Priester, Gottgeweihte, Ordensleute, Intellektuelle und Laien verhindert, deren Gemeinschaft mit der Kirche vielleicht nicht im kirchenrechtlichen, aber doch im existenziellen Sinne geschwächt ist, weil sie nicht das für wahr halten, was die Kirche – wie es das Glaubensbekenntnis bei der Aufnahme in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche formuliert – »als Offenbarung Gottes glaubt, lehrt und verkündet«. Wie viele Katholiken in den Vereinigten Staaten – noch einmal: wir reden von Bischöfen, Priestern, Gottgeweihten, Ordensleuten, Intellektuellen und Laien – können ohne jeden Vorbehalt sagen: »Ich glaube und bekenne alles, was die heilige, katholische Kirche als Offenbarung Gottes glaubt, lehrt und verkündet«? So negativ oder uneindeutig die Antwort auf diese Frage ausfällt, so gefährdet ist die tiefgreifende Reform der Kirche, wie sie sich das II. Vaticanum vorgestellt hat.
Vor einem Vierteljahrhundert vertrat Richard John Neuhaus, damals noch ein lutherischer Pastor, die Auffassung, die katholische Kirche könne dank des Musters, das ihre Entwicklung von Leo XIII. über das II. Vaticanum bis hin zu Johannes Paul II. durchzog, bei der Verkündigung des Evangeliums unter den christlichen Gemeinschaften in der Welt die Führung übernehmen. In dem Buch The Catholic Moment kritisierte Neuhaus diejenigen Katholiken, die glaubten, Johannes Paul II. sei allzu besorgt wegen der abweichenden Meinungen in der Kirche. In Wirklichkeit, so Neuhaus, sei Johannes Paul wegen einer sehr viel tieferen, sehr viel biblischeren Frage besorgt: einer Frage nämlich, die Jesus, der Herr, als Erster gestellt habe: »Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde (noch) Glauben vorfinden?« (Lk 18,8). Das, so Neuhaus, sei für jeden, gleich ob Papst oder Laie, die dringlichste Frage, wenn er oder sie die katholische Möglichkeit, die durch die Reform- und Einigungsbemühungen des Konzils eröffnet worden war, wirklich verstanden hätte.31
Und es bleibt auch heute die entscheidende Frage für jeden, der wirklich an einer tiefgreifenden Reform der katholischen Kirche interessiert ist.
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