Frankenstein. Mary Shelley
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Mary Shelley
Frankenstein
Übersetzt
Christian Barth
Saga
Frankenstein ÜbersetztChristian Barth Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1818, 2020 Mary Shelley und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726539394
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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VORWORT
Dr. Darwin und einige deutsche Wissenschaftler hielten das Ereignis, von dem im Folgenden berichtet wird, für möglich. Von mir kann man nicht erwarten, daß ich einem solchen Hirngespinst auch nur den geringsten Glauben schenke. Ich benützte es zwar als Grundlage meiner phantastischen Erzählung, doch wollte ich keineswegs nur eine Reihe seltsamer Schrecknisse miteinander verknüpfen. Der Begebenheit, die Interesse verdient, haften durchaus nicht die Nachteile einer gewöhnlichen Spukgeschichte an. Mag sie in physischer Hinsicht auch unmöglich sein, so bietet sie doch eine völlig neuartige Situation: Die Einbildungskraft dringt weiträumiger und tiefer in die menschlichen Leidenschaften ein als sonst bei gewöhnlichen Beziehungen zwischen tatsächlichen Geschehnissen.
Ich habe mich bemüht, an der Wahrheit der elementaren Gesetze der menschlichen Natur festzuhalten, während ich ohne Bedenken neuartige Verwicklungen einführte. Die Ilias, die tragische Dichtung Griechenlands, Shakespeare im »Sturm« und im »Sommernachtstraum« und besonders Milton im »Verlorenen Paradies« richten sich nach dieser Regel; der simpelste Schriftsteller, der nur unterhalten will, wendet ohne Anmaßung dieselbe Regel an, nach der so viele ausgeklügelte Verwicklungen menschlichen Empfindens in den größten Dichtungen verlaufen.
Meine Geschichte stützt sich auf Dinge, die einmal beiläufig erwähnt wurden. Ich fing sie aus Vergnügen und als ein Mittel zur Belebung brachliegender geistiger Fähigkeiten zu schreiben an. Andere Motive vermischten sich damit während der Arbeit. Wenn ich auch nicht gleichgültig gegenüber den moralischen Wirkungen bin, die durch die Empfindungen oder die Charaktere des Werks auf den Leser ausgeübt werden, so beschränkte ich mich dennoch darauf, die entnervenden Effekte der Gegenwartsromane zu vermeiden und dafür die Liebenswürdigkeit persönlicher Neigung und die Größe universaler Tugend herauszustellen. Die Ansichten, die sich natürlicherweise aus dem Charakter und der Situation des Helden ergeben, dürfen nicht als meine eigene Überzeugung betrachtet und keine Folgerung auf diesen Seiten als eine voreilige Beurteilung eines philosophischen Systems bewertet werden.
Für mich ist es zudem reizvoll, daß die Niederschrift in jener eindrucksvollen Landschaft begonnen wurde, von der auch die Handlung ihren Ausgang nimmt, sowie in einem geselligen Kreis, den ich immer vermissen werde. Ich verbrachte den Sommer 1816 in der Umgebung Genfs. Die Jahreszeit war kühl und regnerisch; an den Abenden drängten wir uns um ein flackerndes Holzfeuer und amüsierten uns an deutschen Geistergeschichten, auf die wir zufällig gestoßen waren. Sie erregten in uns den spielerischen Wunsch, ähnliches zu erfinden. Meine zwei Freunde – aus deren Feder das Publikum weitaus bessere Erzählungen als aus meiner erwarten dürfte – und ich kamen überein, jeder von uns solle eine Geschichte um eine gespenstische Begebenheit schreiben.
Das Wetter heiterte sich plötzlich auf; meine beiden Freunde brachen zu einer Alpenwanderung auf und vergaßen beim Anblick der großartigen Szenerie ihre Gespenstervisionen. Die folgende Erzählung wurde als einzige vollendet.
Marlow, September 1817
ROBERT WALTON AN FRAU SAVILLE, SEINE IN ENGLAND LEBENDE SCHWESTER:
Erster Brief
St. Petersburg, den 11. Dezember 17. .
Du wirst gewiß mit Freude hören, daß sich mein Unternehmen trotz der üblen Vorzeichen bisher gut anließ. Ich traf gestern hier ein und habe nichts Eiligeres zu tun, als meiner lieben Schwester mein Wohlergehen zu versichern und ihr Vertrauen auf meinen Erfolg zu stärken.
Von London aus gesehen, befinde ich mich bereits weit im Norden. Wenn ich durch die Straßen von St. Petersburg wandere, verspüre ich eine kalte Brise auf meinen Wangen, die meine Nerven kräftigt und mir frohen Mut verleiht. Verstehst Du diese Empfindung? Die Brise weht aus jenen Breiten, denen ich mich nähere, und vermittelt mir einen Vorgeschmack des eisigen Klimas. Meine Tagträume werden durch diesen Wind der Verheißung zu funkelnder Lebhaftigkeit ermutigt. Vergeblich suche ich mich zu überreden, der Pol sei der Ursprung des Frostes, der Trostlosigkeit. Stets bietet er sich meiner Vorstellung als ein Ort der Schönheit, der Freude an. Dort, Margret, leuchtet die Sonne ewig. Ihr gewaltiges Rad rollt am Horizont hin und verströmt einen beständigen Glanz. Dort – Du erlaubst, liebe Schwester, daß ich den mir zuvorgekommenen Seeleuten glaube – gibt es weder Schnee noch Kälte. Sind wir über das stille Meer gefahren, so werden wir an ein Land getragen, dessen wunderbare Beschaffenheit jede bisher entdeckte Gegend auf dem bewohnbaren Erdball übertrifft. Seine Erzeugnisse und seine Formen sind wie die Erscheinungen der Himmelskörper in jener unbetretenen Einsamkeit zweifellos ohne Beispiel. Was ist nicht alles zu erwarten in einem Land des ewigen Lichts? Ich könnte dort die geheimnisvolle Kraft entdecken, die den Kompaß lenkt; ich könnte tausend Himmelsbeobachtungen erklären, die nur diese Reise erfordern, um ihre scheinbaren Unregelmäßigkeiten als richtig zu erweisen. Ich werde meine brennende Neugierde mit dem Anblick eines noch unerschlossenen Teils der Welt sättigen; ich werde ein Land betreten, das noch nie die Fußspuren eines Menschen trug. Das ist mein Ansporn, der jede Angst vor Gefahr oder Tod verscheucht und mich veranlaßt, die mühselige Reise mit einer Freude zu beginnen, wie sie ein Kind empfinden muß, das mit seinen Ferienkameraden im kleinen Boot zu einer Entdeckungsfahrt längs des heimatlichen Flusses aufbricht. Aber angenommen, alle Mutmaßungen wären falsch, dann kannst Du dennoch die unschätzbare Wohltat nicht abstreiten, die ich der ganzen Menschheit bis ins letzte Glied erwiese, wenn ich eine Durchfahrt nahe dem Pol für jene Länder entdeckte, die man gegenwärtig erst nach vielen Monaten erreichen kann, oder wenn ich das Geheimnis des Magneten ermittelte, was – falls überhaupt – nur durch ein Unternehmen wie meines geschehen kann.
Diese Überlegungen haben die Unruhe, mit der ich den Brief zu schreiben begann, zerstreut und eine himmelstürmende Begeisterung in meinem Herzen entfacht. Nichts trägt mehr dazu bei, dem Geist Ruhe zu schenken, als ein stetiges Ziel – ein Punkt, auf den die Seele ihr inneres Auge richtet. Diese Expedition war der Lieblingstraum meiner Jugend. Ich las mit heißem Eifer die Berichte über die verschiedenen Reisen, auf denen man den Nordpazifik über die den Pol umgebenden Meere erreichen wollte. Gewiß erinnerst Du Dich, daß eine Geschichte aller Forschungsreisen die ganze Bibliothek unseres guten Oheims Thomas darstellte. Meine Erziehung wurde zwar vernachlässigt, doch las ich leidenschaftlich gern. Tag und Nacht verbrachte ich über den Büchern; meine Vertrautheit mit ihnen vermehrte mein Bedauern, als ich im Kindesalter erfuhr, daß der ausdrückliche Wunsch meines Vaters meinem Qheim verbot, mir ein Seemannsleben zu gestatten.
Derartige Visionen verblaßten, als ich zum erstenmal jene Dichter las, deren Ergüsse meine Seele in höhere Sphären entrückten. Auch ich wurde ein Dichter und lebte ein Jahr lang im Paradies meiner eigenen Schöpfung; ich träumte davon, eine Nische im Tempel, in dem die Namen Homers und Shakespeares geheiligt werden, zu erhalten. Du kennst mein Versagen zur Genüge und weißt, wie schwer ich an der Enttäuschung trug. Gerade damals erbte ich das Vermögen meines Vaters, und frühere Wünsche wurden wieder in mir wach.
Vor sechs Jahren entschloß ich mich zu meinem gegenwärtigen Unternehmen. Die Erinnerung an die Stunde, in der ich mich dem großen Wagnis weihte, lebt noch in mir. Zunächst gewöhnte ich meinen Körper an Beschwernisse. Ich begleitete die Walfischer auf mehreren Fahrten ins Nordmeer; ich ertrug freiwillig Kälte, Hunger, Durst und den Mangel an Schlaf; ich arbeitete tagsüber härter als die Seeleute und widmete meine Nächte dem Studium