Als wär das Leben so. Rainer Moritz
Flüche aus, die sie nicht verstand, warf die Hände in die Luft. Ich, Dursun, werde mich nicht schuldig machen! Sie genoss das Schauspiel, eine andere Kundin mischte sich ein, wies ihn zurecht und lobte Lisa für ihren Entschluss, sich von ihren halblangen Haaren zu trennen.
Als sie das Geschäft verließ und bemerkte, wie Dursun ihr ängstlich nachsah, als rechnete er jeden Augenblick mit ihrer zornigen Rückkehr, musterte sie sich im Schaufenster und lächelte. Pechschwarz glänzte ihr gegeltes Haar im rötlichen Abendlicht, streichholzkurz war es, am Hinterkopf fühlte es sich wie stachliger Pelz an, Dursuns Rasierer hatte ganze Arbeit geleistet. Sie brauchte nur wenige Stunden, um sich daran zu gewöhnen, fuhr sich den Abend über mehrmals verstohlen durchs Haar. In der Schule hatte sie jenen Mädchen misstraut, die ihr blondes Haar wie Farrah Fawcett trugen, es kokett zurückwarfen, sobald sich ein Junge näherte, dabei blöde lachten und zu Hause stundenlang mit dem Lockenstab hantierten. Lang und blond, das kann jede, dachte sie.
Mama Elisabeth hatte sich beherrscht – »Sicher praktisch im Sommer!« – und zügig den Kaffeetisch eingedeckt. Einer Arbeitskollegin entfuhr ein »Na, ob dich da noch ein Mann anschaut!« und bekam keine Antwort. Sie wusste, dass es Männer gab, die sich vor Frauen mit kurzen Haaren fürchteten, die sie reflexartig für lesbisch hielten, was ihr nicht das Geringste ausmachte.
Zur Verwirrung der Männer beitragen und sie im Unklaren lassen, das lernte sie als Zwanzigjährige, und das behielt sie bei. Wie ihre kurzen Haare, die sie alle drei Wochen bei Dursun nachschneiden ließ. Der nach kurzer Zeit stolz auf ihren Mut war und begann, anderen Kundinnen eine Persönlichkeitsveränderung durch Kurzhaarschnitt nahezulegen. Auch als Dreißigjährige, Vierzigjährige und Fünfzigjährige trug sie ihre Haare so. Sie war froh, über ihren Kopf nicht mehr nachdenken zu müssen, fing an, mit einem feuerroten Lippenstift einen Kontrast herzustellen, der sie zu einer Person machte, die auffiel, ohne zu sehr aufzufallen. Ungeschminkt ging sie nicht mehr aus dem Haus.
Nach und nach passte sie ihre Kleidung an. Schwarze Hosen mit leichtem Schlag, schwarze, eng anliegende, nie weit ausgeschnittene Tops, schwarze Jacketts, schwarze Mäntel. Allenfalls die ausladenden Ohrringe, in Rot oder Grün, fielen aus dem Rahmen.
Wenn sie Jeans trug – zwei Paar besaß sie –, gaben die Kollegen Kommentare ab und schienen ihren Augen nicht zu trauen. Ob sie einen neuen Freund habe, einen mit Schwarzallergie. Tragen Sie doch mal fröhliche Farben, das gefällt der Kundschaft und steigert den Umsatz, wie wissenschaftliche Studien zeigen … einmal nur wagte es der Filialleiter, sie derart anzusprechen. Ihr Blick brachte ihn nach wenigen Sekunden zum Schweigen. And you wonder why I always dress in black, why you never see bright colors on my back – das war das Lied, das sie als Vierzigjährige zu ihrem Handyklingelton machen würde.
7
Ganz einfach sei es ja mit ihr nicht immer gewesen, aber sie habe ihre Ausbildung mit Bestnote abgeschlossen und werde als engagierte Kraft geschätzt. Als Zwanzigjährige saß sie auf ihrem Stuhl, ohne die Rückenlehne zu berühren, während der Seniorchef weit ausholte. Frauen wie sie könne der Buchhandel gut gebrauchen, Frauen, die Einsatz zeigten und Überstunden machten, wenn Not am Mann sei. Kurzum, man würde sie gern fest anstellen, in einer Vorortfiliale, wo sie in ein paar Jahren zur stellvertretenden Leiterin aufsteigen könne.
Sie nickte, bedankte sich mit zwei Sätzen und erklärte, dass sie nicht wisse, was sie in nächster Zeit tun wolle. Wenn es möglich sei, werde sie über das Angebot nachdenken und sich melden. Der Seniorchef beugte sich vor, als ob er sie nicht verstanden hätte, und schüttelte den Kopf. Lange könne man ihr die Stelle aber nicht frei halten. Andere würden sich darum reißen.
Sie verabschiedete sich, ging nach Hause, um Quiche Lorraine zu backen, für die kleine Feier mit den Kolleginnen. Immerhin war sie nun quasi diplomierte Buchhändlerin. Ihren Eltern gegenüber erwähnte sie das Gespräch mit dem Chef nicht, sie wusste, wie Mama Elisabeth reagieren würde. Ein solches Angebot ausschlagen! Bist du verrückt?
Sie fuhr übers Wochenende an die Schlei, schlief wie immer in ihrem Mädchenzimmer, neben ihrem ältesten Kuscheltier, einer ramponierten schwarz-weiß gefleckten Kuh, und vertrödelte die Tage. Sie legte sich in den Liegestuhl, las Romane von Dorothy Sayers, pflückte Äpfel und half Mama Elisabeth beim Marmeladekochen. Ein säuerlicher Geruch, der sie zehn Jahre jünger machte.
Wie früher ging sie abends hinunter ans Ufer, setzte sich irgendwohin und ließ Kiesel übers Wasser flitzen. Ein Kanufahrer winkte ihr zu, sonst war niemand zu sehen. Ob es ihr gut gehe, fragte sie sich selbst, ein Verhör, das sie nur alle paar Monate führte, um sich Klarheit zu verschaffen, worüber auch immer. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die ständig ihr Inneres befragten. Sie wollte leben für den Augenblick und diesen Augenblick nicht zerreden.
Bald würde sie die Schlei vielleicht ganz verlassen. Sie verabredete sich mit Inger, die inzwischen mit Bauer Redeckers Sohn zusammen war, und Katrin, die vor drei Jahren mit ihren Eltern ins Dorf gezogen war. Katrin, die Großstädterin aus Hannover, die sich schwertat, Eckernförde oder Schleswig als Alternativen in Betracht zu ziehen.
In der Buchhandlung arbeiten oder in einer anderen, das lief ihr nicht davon. Sie schreckte davor zurück, einen Arbeitsvertrag zu unterschreiben, und sie würde keinen unterschreiben, fürs Erste. Das klang so, als wäre sie eine Erwachsene mit Perspektiven.
Sie nahm den Shell Atlas aus dem Regal und fuhr mit dem Zeigefinger nach Holland, England, Frankreich, Spanien und Portugal. Eine Rundfahrt, vier Wochen mindestens, im Auto. Mit der ängstlichen Inger, sie hatten gemeinsame Reiseerfahrungen und kamen gut miteinander klar. Wenn die es schaffen würde, sich eine Weile von ihrem Jungbauern zu trennen. Und vielleicht mit der undurchschaubaren Katrin, die Jura studieren wollte und einen VW Polo besaß, ein lindgrünes Gefährt mit ersten Rostflecken.
Männer kamen als Mitreisende nicht infrage. Sie war in Hamburg mit dem einen oder anderen ins Bett gegangen, einmal sogar mit einem Kunden, einem Krankenpfleger, Ende zwanzig, der sie vor dem Laden abgepasst und zu einem Alsterwasser eingeladen hatte. Zu wissen brauchte das niemand. Von Dauer war nichts gewesen, und sie trauerte keinem nach.
Mitte Juni brachen sie auf. Katrin hatte für den Herbst einen Studienplatz in Berlin bekommen, Inger würde eine Ausbildung als kaufmännische Angestellte beginnen, in einer Rendsburger Firma für Kälte- und Klimatechnik. Ein Onkel hatte den Kontakt hergestellt. Interessiert dich das denn?, fragte Lisa. Inger zuckte mit den Achseln. Sie freue sich auf die Frankreich-Tour, alles andere sei ihr im Moment egal. Fünftausend Kilometer würden sie mindestens zurücklegen, das frisch gewartete Auto würde die Strecke meistern. Lisa saß im Fond des vollgepackten Wagens, als sie losfuhren. Sie winkte Mama Elisabeth zu, die es sich nicht nehmen ließ, sie am Straßenrand zu verabschieden. Gleich nach der ersten Kurve schalteten sie den Kassettenrekorder ein und sangen mit. Inger und Katrin würden sich am Steuer abwechseln.
Viereinhalb Wochen waren sie unterwegs. Mal übernachteten sie im Zelt, mal in einer Jugendherberge, mal in schäbigen Hotels. Sie fuhren über die Schweiz nach Frankreich, saßen an der Fontäne des Genfer Sees, kauften in Grasse kleine Flakons mit fremdartigen Parfums, schafften es bis an die Côte d’Azur, weil sie unbedingt Station in Monaco, im Fürstentum, machen wollten, besuchten den Jardin Exotique, übernachteten auf dem Dach der Jugendherberge in Nizza, deren Toiletten sie mieden, blieben am Mittelmeer, in Cannes und St. Tropez, das sie enttäuschte, sonnten sich in abgelegenen Buchten, aßen Baguette, Oliven und Tomaten, besuchten in der Provence, was alle besuchten, und blieben endlich für ein paar Tage in Valras-Plage, nicht weit von Béziers entfernt.
Katrin machte Strandspaziergänge, unterhielt sich mit jedem, verschwand für Stunden und kehrte ausgelassen zurück, mit Knutschflecken am Hals, die niemand kommentierte. Inger blieb meist in der Nähe der Unterkunft, schrieb Ansichtskarten an ihre Verwandtschaft und achtete ängstlich auf ihre Sachen. Lisa war am Strand, breitete nah am Wasser ihr Badetuch aus, verbrachte die Zeit damit, zu lesen und sich der Sonne entgegenzurecken.
Die Zeit verging langsamer als zu Hause. Sie ließ den fast weißen Sand durch ihre Finger rieseln und warf sich in die Wellen, sobald die sich wie richtige Wellen benahmen. Sich in die Brandung stürzen, mit einem Aufschrei, die Augen schließen, sich von den Beinen reißen lassen und