Gommer Winter. Kaspar Wolfensberger

Gommer Winter - Kaspar Wolfensberger


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In ihrer Freizeit lechzten Soldaten und Offiziere nach etwas Abwechslung. Albert und Maria Steffen, die zu der Zeit halbwüchsige Kinder hatten, erkannten die Marktlücke und beschlossen, in Alberts Elternhaus eine Pension mit Gaststube zu eröffnen. Anfangs bestanden die Gäste ausschließlich aus Unteroffizieren, die in den einfachen Zimmern einquartiert wurden. Die Gaststube, Mutter Maria nannte sie ihre Trattoria, wurde wegen der einfachen, aber vorzüglichen Küche abends von Soldaten und Offizieren frequentiert.

      »Wann war das?«, wollte Kauz wissen.

      »Ein paar Jahre nach dem großen Lawinenunglück«, antwortete Matteo.

      Das große Lawinenunglück!, dachte Kauz. Wie immer, wenn er davon hörte, wurde ihm mulmig.

      »Also in den 1970er-Jahren?«

      »Ja, wir waren damals sechzehn Jahre alt.«

      Als sich im Goms der Tourismus zu entwickeln begann, wurde die Pension Galenblick zu einem Geheimtipp für Wanderer und Langläufer. Vater Steffen, selber Bergsteiger, Skifahrer und Langläufer, übernahm es, die Skier seiner Gäste kunstgerecht zu wachsen und instand zu stellen. Bald waren im Geräteschuppen, in welchem die Gäste ihre Bretter einstellten, auch Mietskis zu haben, und wer es wünschte, wurde von Vater Steffen in die Kunst des Langlaufens eingeführt. Der Galenblick wurde kontinuierlich ausgebaut und erweitert, und vor zwanzig Jahren wurde im Nebenhaus das Sportgeschäft eröffnet. Richtig zu florieren begann das Familienunternehmen, als die Zwillingsbrüder sich nach dem unerwarteten Tod des Vaters entscheiden mussten, das Unternehmen eingehen zu lassen oder mit voller Kraft einzusteigen. Matteo hatte die Hotelfachschule absolviert, war zu jenem Zeitpunkt aber fast immer als Bergführer in Chamonix, in Zermatt und in aller Welt unterwegs. Carlo hatte sich ganz seiner Karriere als Spitzensportler verschrieben. Beide waren mittlerweile verheiratet, Carlo hatte drei kleine Kinder. Es galt, die Ehefrauen für das Projekt zu gewinnen.

      »Und?«, fragte Kauz. »War das schwierig?«

      »Bei Anita nicht«, sagte Carlo. »Für sie und die Kinder bedeutete es keine große Umstellung. Ich war einfach mehr zu Hause als früher«, lachte er.

      Kauz sah Matteo an.

      »Nadja, meine Frau – Ex-Frau, muss ich sagen –, konnte sich mit dem Goms nicht anfreunden. Sie versuchte es, aber es ging nicht. Wir trennten uns. Nicht ganz einfach für einen Hoteldirektor, das kannst du mir glauben«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Aber ich komme schon klar, ich habe prima Mitarbeiter.« Er sah Carlo an, der nickte. »Wo bin ich stehen geblieben? Ach so, ja: Nach Vaters Tod beschlossen wir, aufs Ganze zu gehen«, nahm er den Faden wieder auf.

      Ein Neubau im Gommer Holzbaustil wurde errichtet, mit viel Lärchenholz. In die ehemalige Pension kamen Wirtschaftsräume und Personalzimmer, das Sportgeschäft wurde großzügig ausgebaut und um die Langlaufschule erweitert. Vor zwei Jahren dann wurde der Wellnessanbau erstellt. Matteo hatte gefunden, dass das Hotel schon genug Heimatstil verströme, jetzt sei mal etwas Mutiges gefragt. Der Erweiterungsbau sollte architektonisch ganz modern sein. Lange wurde familienintern und später mit den Baubehörden gestritten. Aber das Ergebnis, so fand auch Kauz, ließ sich wirklich sehen: ein schlichter Würfel mit einer feinen, lamellenartigen Fassade. Diese und das Flachdach, um welches besonders erbittert gefochten worden war, stellte einen pfiffigen Kontrast zu den behäbigen Gommer Holzbauten mit den traditionellen Balken dar.

      Nachdem er die Steffen-Story gehört hatte, fragte Kauz schließlich: »Habt ihr Feinde?«

      »Das möchten wir ja selbst gern wissen«, erwiderte Carlo.

      »Was wir sicher haben, das sind Neider«, ergänzte Matteo.

      »Neider?«

      »Der älteste Gommer ist der Neid, heißt es. Jeder im Goms, der ein bisschen etwas erreicht hat, hat hier Neider«, sagte Matteo bitter.

      »Du meinst solche, die weniger oder gar nichts haben?«

      »Genau die«, bestätigte Matteo. »Aber auch solche, die gleich viel oder sogar mehr haben.«

      »Das ist jetzt nicht gerade hilfreich«, sagte Kauz schmunzelnd. »Da kommt ja jeder infrage. Könnt ihr nicht ein bisschen konkreter werden?«

      »Du hast ja noch gar nicht zugesagt«, meinte Carlo.

      »Ach so, darum rückt ihr nicht mit der Sprache heraus?«, lachte Kauz. »Nun, gut«, sagte er nach einer kleinen Pause, denn eigentlich hatte er sich bereits entschieden. »Ich nehme den Auftrag an. Aber ich will ihn jederzeit zurückgeben können. Auch ohne Begründung.«

      Carlo tauschte einen Blick mit Matteo.

      »Einverstanden«, sagte der. »Und wir wollen, dass alles, was wir dir sagen, vertraulich bleibt. Auch wenn du irgendwann aussteigst.«

      »Natürlich. Mit einer Ausnahme: Wenn ich etwas erfahre, was für die Polizei bei den Ermittlungen in diesen Mordfällen wichtig sein könnte, muss ich es ihr sagen.« Ihm war klar, dass das eine ziemlich einschneidende Einschränkung war.

      Matteo zog die Unterlippe ein, Carlo fasste sich an die Nase. Die Brüder tauschten nochmals Blicke. Zuerst nickte Carlo, dann Matteo. Kauz schaute sie an. Beide hatten ein offenes Gesicht und ruhige, dunkle Augen.

      »Gut, dann müssen wir nur noch …«, fing Kauz an und rieb sich das Kinn.

      »… über dein Honorar reden«, kam ihm Matteo zuvor. »Klar. Was ist deine Forderung? Sag’s ungeniert. Tages- oder Stundenansatz, spielt keine Rolle.«

      »Ich nehme kein Geld«, sagte Kauz.

      Die Brüder sahen ihn verdutzt an.

      »Ihr müsst wissen«, erklärte Kauz, »ich stehe immer noch auf der Lohnliste des Kantons Zürich.« Es gab noch einen weiteren Grund, kein Honorar anzunehmen, aber den sprach er nicht aus: Er wollte nicht unter Erfolgsdruck kommen. »Für den Augenblick habe ich andere Forderungen.«

      »Welche?«

      »Freien Zugang zum Hotel und zum Sporthaus Steffen. Zum Speisesaal, zum Restaurant, zum Spa, zu allem. Zu den Kursen, zur Werkstatt, zum Kursbüro. Und zum ganzen Personal.«

      »Natürlich, das ist doch selbstverständlich.«

      »Eben. Das Bilderkratzen lässt ja eher an Insider denken. Ich nehme also euer Personal unter die Lupe. Vielleicht auch Gäste«, meinte er und schaute Matteo an. Der verzog das Gesicht, hob die Hände und gab damit zu verstehen, dass er da seine Bedenken habe. »Keine Sorge«, griff Kauz den unausgesprochenen Einwand auf, »ich mache das diskret. Eventuell muss ich mich auch in der Nachbarschaft, im Dorf, vielleicht im ganzen Goms umhören.«

      Wieder wechselten die Brüder Blicke. »Das wäre ganz in unserem Sinn«, sagte Matteo. »Vorausgesetzt, du gehst auch dabei diskret vor«, lachte er. »Ich meine, dass du nicht gleich jedem unter die Nase reibst, dass wir dich schicken.«

      »Ihr schickt mich nirgendwohin, damit das klar ist«, sagte Kauz. Und das war nur halb im Scherz gemeint. »Ich gehe nach eigenem Ermessen vor.« Nach einer kurzen Pause sagte er: »Also, die Neider sind das eine. Aber was gibt es für Leute, die sich aus irgendeinem Grund über euch ärgern? Wer fühlte sich von euch schlecht behandelt? Wem seid ihr in die Quere gekommen?«

      Die Zwillinge sahen sich an. Dann packten sie aus.

      Nach einer Stunde hatte Kauz einiges über große und kleine Konkurrenten im Gommer Sport- und Hotelgeschäft, über engstirnige Gemeinderäte, frustrierte Umweltschützer, verärgerte Landwirte und über Nachbarn erfahren, die sich durch den Familienbetrieb Steffen beeinträchtigt fühlten. Kauz erkundigte sich auch nach dem Instruktoren-Team. Carlo ging mit ihm die Skilehrer durch. Zu fast allen, den Einheimischen wie den Üsserschwiizern, bestehe ein ungetrübtes Verhältnis, war sein Fazit. Aber die Reihe war noch unvollständig.

      »Was ist mit Björn?«, fragte Kauz.

      »Ach, der tut mir leid!« Carlo schien ehrlich betroffen zu sein. »Er hat einen Zusammenbruch erlitten. Er musste seine tote Frau identifizieren.«

      »Ich weiß«, sagte Kauz.


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