Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen. Wolfgang Kohlhaase

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mehr von Hunger gelähmt, nicht mehr von Angst betäubt, das Gerüst einer Sprache ersinnt, ringsum täglich an die fünfzig Männer, Woche um Woche, ihr Fleisch verbrennt, ihr Hirn verzischt, ihre Seelen fahren in die Himmel ihres Glaubens, vorher hat ihr Mund vielleicht ein letztes Wort gesprochen, das sich auf einen langen Weg macht, durch Menschen, durch Länder, am Ende, mag sein, kommt es zu denen, die darauf warten.

      Straats Sprache wird keinen anderen erreichen als Battenbach, sie wird keine Botschaft tragen, sie stellt nichts dar als sich selbst, sie rettet den einen, der sie ausdenkt, und einen zweiten, der sie mühsam lernt, einen krummen Hund, keinen Bluthund, macht sie sanfter. Sonst ist sie unnütz. Aber Straat braucht die Phantasie der großen Entdeckungen, den Mut der großen Hypothesen, die Mühe der großen Versuche für seine Sprache. Und Battenbach, Küchenkapo, Zuhälter aus Hamburg, braucht die fleißige Einfalt, mit der er vor langem in einer Schulbank saß.

      An einem Augustmorgen, sein Gesicht ist fleckig, die Zunge quillt ihm aus dem Mund, trägt man Straat vom Appellplatz, wo er hingestürzt ist, ins Revier. Drei Tage liegt er in Fieberträumen, auf Stroh, auf dem Fußboden, die Pfleger hören ihn ein wirres Holländisch reden, aber er stammelt auch unverständliche Laute, Wortketten ohne Sinn. Dann ist abzusehen, daß er durchkommen wird, er ist kräftiger als andere, aber ist er noch bei Verstand? Der Lagersanitäter geht mit der Spritze durch die Reihen, mit Luft heilt er alle Schmerzen, wer tot ist, ist nicht mehr krank. Wenn er Straat schreien hört, wird er ihn für verrückt erklären, er wird seine Nummer notieren, dann wird er ihm den Ärmel hochschieben und nach der Vene suchen. Der Pfleger zieht Straat an den Füßen in einen Nebenraum, da liegen die Gestorbenen, da hört ihn niemand, da sucht ihn niemand. Da kommt Straat zu sich. In einem warmen Sonnenlicht, das durch zwei Fenster hereinscheint, sieht er seinesgleichen, erstarrt, in den lächerlichen Verrenkungen des letzten Augenblicks, Pupillen, für immer fixiert, Münder, aufgerissen ohne Schrei. Lebt er denn selbst? Er hat eine Stimme, mit der kann er heulen wie ein Wolf, und er kann Wörter mit ihr aussprechen, über die sich jeder wundert, nur seine schweigenden Gefährten nicht. Gehört er also zu ihnen?

      Ehe der mit Zinkblech ausgeschlagene Leichenwagen kommt und rückwärts an die Fenster heranfährt, trägt man Straat, der im Fieber um sich schlägt, in ein Bett. Anderntags ist er ruhiger. Der Pfleger, ein Deutscher, betrachtet ihn kopfschüttelnd. »Kumpel, was hast du bloß für ein seltsames Zeug geschrien. Wir dachten, dich hat es erwischt.«

      Und er tippt sich gegen die Stirn. Straat ist sehr schwach, er vergißt alle Vorsicht.

      »Es ist Persisch«, sagt er. »Aber es ist kein richtiges Persisch. Ich denke es mir aus.«

      »Was denkst du dir aus?«

      »Eine Sprache«, sagt Straat.

      Also haben sie doch einen mit einer Macke gerettet, so scheint es dem Pfleger, das Schicksal ist blind, große Geister gehen kaputt, dieser Holländer hat Glück. Hat überhaupt Glück, denn der Küchenkapo läßt seine Beziehungen spielen und schickt ihm mehrmals einen Kanten Brot ins Revier. Straat erholt sich, und als ihn der Pfleger noch einmal nach seiner Sprache fragt, gibt er vor, sich an nichts zu erinnern. Und auch den Schreck verbirgt Straat, den Schreck darüber, daß er seine Mütze verloren hat. Er kommt in seinen Block zurück, ein von den Toten Auferstandener, er sieht neue Gesichter, auch auf seiner Pritsche. Er wartet auf den Blockältesten, der drückt ihm die Hand. »Komm mit, ich hab was für dich.«

      In der Blockführerstube ist eine Diele gelockert, darunter holt der Blockälteste einen schmutzigen Fetzen Stoff hervor, nein, keinen Stoffetzen, eine Mütze, Straat dreht sie in den Händen und fühlt das Papier, auf dem seine Sprache steht.

      »Der neben dir lag, der Elektriker, hat sie vom Appellplatz mitgebracht.«

      »Wo ist er?« fragt Straat.

      »Er ist nach dir krank geworden«, sagt der Blockälteste. »Er kommt nicht wieder.«

      Der Blockälteste hat einen pfeifenden Atem, als wäre etwas in seiner Nase zerbrochen. Er sagt: »Bring auch in Zukunft was aus der Küche mit. Es sind viele da, die es brauchen.«

      So geht alles weiter seinen Gang. Straat tritt wieder im Küchenkommando an, in Battenbachs blaßblauen Augen leuchtet Genugtuung, Battenbach läßt keinen umkommen. Mittags, wenn der Rottenführer Roeder gegangen ist, setzt er sich hinter den Tisch, den Bleistiftstummel in der Hand, im Gesicht die Demut des Lernenden, lernen heißt lifu. Und Straat schmuggelt Papier und Bleistift und Brot und Kartoffeln durch das Gebrüll der Appelle, und abends, die Schulter an der Schulter eines neuen Nebenmannes, ersinnt er Redewendungen und Sätze und konstruiert eine Konjugation und eine Deklination. Nicht mehr nur für Battenbach, dem das Pensum reicht. Jetzt ist es die Sprache selbst, die ihn treibt. Noch einmal droht ihm Entdeckung. Battenbach hat erfahren, daß ein Perser eingeliefert worden ist. Ein lebender Perser, Mensch. Zwei Tage lang streift Battenbach durch das ganze Lager, mit Hilfe aller Tricks, die er kennt, und versucht, ihn zu finden. Dann hat er ihn, es ist aber kein Perser, es ist ein Inder. Einen weiteren Tag lang schimpft Battenbach. »Ein Drecklager ist das. Unter dem ganzen Gesocks haben sie nicht mal einen Perser.«

      »Der Führer ist nur nicht so weit gekommen«, sagt Straat tröstend. Und er denkt: Armer, verlassener Mann aus Indien.

      Es wird Herbst, und es wird Winter. Über den Appellplatz weht ein eisiger Wind und wirbelt über die gefrorene Erde den dünnen Schnee. Durch das Tor zieht eine Kolonne in Lumpen, unendlich langsam, Fuß vor Fuß, kommt aus anderen Lagern in dieses Lager, hat den Marsch noch überdauert und zieht nun ein in die Zelte, die von Drahtgittern umgeben sind, um still zu vergehen, nachts, unter hoch stehenden Sternen, tags unter schnell ziehenden Wolken, manchmal scheint die Sonne.

      Hinter dem Fenster des Küchengebäudes, dort ist es warm, probt Straat mit Battenbach eine erdachte Szene in Persisch. »Ich bin ein Herr aus dem Ausland. Ich bin Geschäftsmann. Darf ich mit der Dame tanzen? Ta muli asa okadir. Ta muli lern basarmelko. Neli ta ramadamda donga?«

      Ein Maitag wird kommen, an dem die Tore offen sind, an den Straßen blühen die Kastanien, wer lebt, geht, wohin er will. Straat wird nach Holland zurückkehren, er wird seine Physik zu Ende bringen, Lehrer werden. Er wird leicht ermüden sein Leben lang. Niemals mehr wird er etwas so Großes tun, wie er vollbracht hat, er hat eine Sprache erfunden, die er allmählich vergißt. Battenbach wird nach Persien gelangen, in das Kaiserreich Iran, verwundert über das seltsame Persisch, das man dort spricht.

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