Der flammende Sumpf. Rudolf Stratz

Der flammende Sumpf - Rudolf Stratz


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Ochrana? Der Gedanke beuhigt mich. Die Lider fallen mir zu. Ich schlafe schliesslich doch wieder fest ein.

      Als ich die Augen aufschlage, ist es schon heller Tag. Draussen gleitet langsam unter stahlblauem Herbsthimmel Russland vorüber. Endlos das weisse Gewimmel der Birkenstämme mit den letzten bunten Laub. Strohgedecke Bauernhütten. Die grünen Hols-Zwiebeln der Dorfkirchen. Ich zünde mir eine Zigarette an und überlege mir, ob ich die Ereignisse dieser Nacht nur geträumt habe. Nein! Den Eltern werde ich sie berichten. Sonst keiner Menschenseele. Ich schue gedankenlos auf die Uhe, schnelle empor, greife hastig nach meinem Gepäck. Herrgott: wir sind ja gleich in Gatschina!

      Da fahren wir schon ein. Halten. Ich will hinaus. Ein Blick durch das Fenster: Über den ganzen Bahnsteig hin steht längs des Zug seine Reihe schweigender Gendarmen mit umgeschnalltem, Revolver. Von irgendwo her schallt eine befehlende Stimme:

      „Alle Reisenden sitzen bleiben! Niemand darf den Zug verlassen!“

      Und neben mir sagt ein Schaffner draussen zu einem Stationsarbeiter, der die Räder mit einem Hammer beklopft und wahrscheinlich auch ein verkleideter Spitzel ist: „Es waren heute nacht politische Verbrecher im Zug. Sie entkamen. Man will, ehe der Zug Petersburg erreicht, untersuchen, ob sich nicht in ihm vielleicht noch Mitschuldige befinden. Alle Koffer werden durchsucht. Alle Pässe geprüft.“

      Zum Glück fangen sie wenigstens mit den Wagen erster Klasse an! Mehrere Menschen treten in mein Abteil, Leute in Uniform und Zivil. Sie durchstöbern Stück für Stück mein Handgepäck. Dann wendet sich der eine, ein Kerl mit vielen Finnen in seinem käsigen Gesicht, an mich:

      „Bitte Ihren Pass!“

      Ich habe den Pass in einer unterirdischen Seitenklappe meiner Brieftasche verwahrt. Die Brieftasche steckt immer in meinem Rock. Ich hole sie heraus. Ich öffne sie. Ich greise in den Iuchtenlederschlitz, in dem mein Pass, mein getreuer Reisebegleiter im Ausland, seit zwei Jahren, ruht. Ich ziehe die Hand leer zurück. Ich fasse noch einmal in das Geheimfach der Tasche. Ich fingere hastig ihre dünnen ledernen Wände ab. Da ist nichts. Ein Blick hinein überzeugt mich . . .

      Dabei weiss ich ganz genau: Ich habe den Pass, den mir der Grenz-Tschinownik in Wirballen nach beendetem Verhör zurückgab, in die Brieftasche gesteckt. Die Brieftasche ist noch da. Ihr Inhalt — Korrespondenzen, Visitenkarten, Fahrschein, selbst ein dickes Bündel regenbogenfarbiger Hundertrubelnoten — ist völlig unversehrt. Nur der Pass — der Pass fehlt . . .

      Vielleicht habe ich ihn doch in eine andere Klappe der Tasche getan? Ich stöbere alles durch. Nein! Meine Aufregung wächst. Der finnige Geheimpolizist steht stumpfsinnig da. Hinter ihm die Gendarmen. Es regt sich nichts auf ihren schnurrbärtigen Zügen. Gegen einen Barin, der in der ersten Klasse reist, ist man rücksichtsvoll. Sie warten. Sie wissen: Ich muss ja meinen Pass besitzen! Wie wäre ich denne sonst über die Grenze gekommen?

      Habe ich das verwünschte Papier am Ende in der Zerstreutheit irgendwo andershin in meinen Anzug gesteckt? Ich weiss: es ist aussichtslos! Es ist nur, um Zeit zu gewinnen. Um zu überlegen. Ich krabbele lächelnd in jedem Behältnis herum, das im Ausland der deutsche Schneider mir in Rock und Hose und Weste angebracht. Und dabei durchzuckt mich schreckhaft die Lösung des Rätsels . . .

      Ein Erinnerungsbild der Erkenntnis steigt vor mir auf: Da sitzt wieder, mitten in der Nacht, wie ich plötzlich aufwache, mie gegenüber der bleiche, schwarzhaarige Gymnasiast. Er hat seine dunkelgrüne Uniform aufgeknöpft. Er birgt etwas auf seiner Brust — der gerundeten Brust einer Frau. Jetzt weiss ich, was dies Etwas ist. Der grüne Gymnasiast hat mir im Schlaf meinen Pass gestohlen und die Brieftasche wieder in meinen Rock zurückgeschoben. Mit dieser letzten Bewegung hat er mich, ohne dass er es merkt, aus meinem bleiernen Schlaf geweckt. Daher seine misstrauischen Blicke zu mir hinüber. Dann, als ich mich nicht rege, seine wiederkehrende Ruhe. Seine Berechnung: Wenn ich, während des Rests der Fahrt nach Petersburg, nur die Brieftasche an ihrem gewohnten Platz finde und in ihr Fahrkarte und Reisegeld — nach dem Pass in dem Geheimfach werde ich unterwegs nicht mehr sehen! Den Pass braucht man, wenn man einmal die russische Grenze hinter sich hat, ja erst wieder bei der Ankunft in Petersburg zur Ablieferung an den Viertelsmeister und die Stadthauptmannskanzlei.

      Was nun? Ich bin völlig verdonnert. Ich starre leer zum offenen Abteilfenster hinaus, um meine Gedanken zu sammeln. Vor dem Fenster klirren Sporen. Der örtliche Polizeichef, ein schlanker, schnurrbärtiger, junger Mann, geht schnell die Reihen der Gendarmen entlang. Ich kenne ihn, von Estland her. Er ist ein Balte. Er ist, durch ein Scheffel Erbsen, mit der Frau meines dortigen Onkels, des Pastors Casparson, einer geborenen Baronesse Donstätten, verwandt. Ich rufe ihn lachend auf deutsch an. Ich spiele den unbefangenen, jungen Weltmann.

      „Graf Rittmannshausen! . . . Graf Rittmannshausen! . . . Erbarmen Sie sich meiner!“

      Er bleibt stehen und reicht mir zum Abteilfenster herein die Hand.

      „Sieh da: Herr von Küster! Endlich aus dem Ausland zurück!“

      „Aber vorläufig hier im Zug als Staatsgefangener! Ich möchte so gern hier heraus! Mein Vater, den ich seit zwei Jahren nicht gesehen habe, erwartet mich!“

      „Ich sah jetzt eben dort hinten Seine Exzellenz! Er sucht nach Ihnen! Bitte steigen Sie nur aus!“

      Ein kurzer Blick des örtlichen Polizeichefs zu seinen Leuten im Abteil, der besagt: „Für diesen Herrn stehe ich ein!“ Die Gendarmen und die dunklen Ehrenmänner neben ihnen begreifen. Sie sind wie ausgewechselt. Sie reichen selbst mein Gepäck aus dem Fenster dem Träger draussen. Ich trete hinaus. Ich drücke dem Grafen Rittmannshausen dankend die Hand. Ich eile den Bahnsteig entlang und liege in den Armen meines Vaters.

      II

      Papa küsst mich zur Begrüssung stürmisch auf beide Backen. Papa ist, vor undenklichen Zeiten, vor bald vier Jahrzehnten, aus Deutschland, wo es ihm zu eng war, nach Russland gekommen, und auch ich bin durch seine baltische Heirat rein deutschen Geblüts. Wir, die Eltern und ich, sprechen auch zu Hause untereinander nur deutsch. Aber jetzt, in der Freude, seinen einzigen Sprössling wiederzusehen, bricht bei Papa der alte Petersburger durch. Ein Schmatz nach Russenbrauch rechts. Ein Schmatz links. Sprechen kann Papa vor Rührung nicht. Auch ich nicht. Ich sehe Papa an. Er hat sich gar nicht verändert in den zwei Jahren meines Aufenthalts im Ausland. Immer noch die hohe, schlanke, biegsame Gestalt, trotz seiner Ende der Fünfzig, immer noch die geschmeidigen, fast lautlosen Bewegungen, die mehr an einen Höfling als an einen Professor der Medizin erinnern. Sein Haar über der hohen Stirn ist immer noch dicht und dunkelbraun, die ungewöhnlich grossen, klugen, grauen Augen sind immer noch brillenfrei. Auf seinem glattrasierten Diplomatengesicht mit der langen, geraden Nase und den schmalen, feinen Lippen liegt immer noch das verhaltene, unverbrüchlich verbindliche und verständnisinnige Lächeln des grossen Petersburger Modearztes, der nun schon von Generationen der Hohen Welt an der Newa die leiblichen und, zum Teil, auch seelischen Nöte kennt. Mir gegenüber schwindet bei Papa die glatte Tünche. Er schaut mich liebevoll an. Er streichelt mich mit seinen auffallend schön geformten, wundervoll gepflegten Händen. Seine Stimme, die er jetzt wiedergefunden hat, ist weich, eindringlich, von tröstendem, halblautem Klang eines Beichtvaters am Krankenbett.

      „Mama schickt dir ihren Segen, mein Sohn! Sie zählt die Stunden, bis sie dich in Petersburg in die Arme schliesst! Ich wurde gestern abend zu heute früh nach Gatschina herausbefohlen. Ich sollte das Glück, haben, den Grossfürsten Oleg zu behandeln. Als ich kam, war der allerdurchlauchtigste Herr in das Lager von Kransnoje Selo hinübergefahren. Er inspiziert dort das Ismailowsche Regiment. Die Truppen bleiben dies Jahr länger als sonst dort. Ich muss seine Rückkehr abwarten. Nun komm, mein Junge!“

      Papa fasst mich unter den Arm und geleitet mich gegen den Ausgang, wo majestätisch in Silber und Scharlach der dicke Stationsschweizer Wache hält. Papa erzählt dabei in seiner leisen, sanften und doch merkwürdig bestimmten Art, der er seine Macht über die Menschen verdankt:

      „Mama ist — Lob sei Gott — wohl und munter. Auch sonst alles in unserer Verwandtschaft. Mamas Bruder und Tante Dorothea lassen dich aus Dorpat grüssen. Mit ihrer Tochter habe ich einigen Verdruss. Ich hatte der Magna, wie ich dir seinerzeit schrieb, durch meine Verbindungen im Hofhalt des grossfürsten


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