Die Grenzen des Glücks. Anselm Oelze
Moria sei »vorübergehend geschlossen«.
Für gut anderthalb Wochen steht Moria medial ganz oben auf der Agenda. Die Geschichten liegen auf der Straße. Und so gibt es zahlreiche Berichte von mangelnder Hygiene und fehlender medizinischer Versorgung (was nicht heißt, dass vor dem Brand auch nur eines von beiden in ausreichendem Maße vorhanden gewesen wäre, aber nun ist alles vollständig zusammengebrochen). Kameraaufnahmen zeigen, wie Familien mit schreienden Kindern von der Polizei mit Tränengas beschossen werden (A Short Story of Moria, ein viertelstündiges Video über die Zustände im Camp vor und nach dem Brand, schafft es am 16. September zur Primetime ins Privatfernsehen und geht in den folgenden Tagen bei YouTube viral). Und es herrscht in vielen Kommentaren Einigkeit darüber, dass dieser Brand ein Geschehen mit Ansage war, und zwar im doppelten Sinne: Diejenigen, die im Camp lebten, seien zum Teil von dem Vorhaben unterrichtet gewesen, heißt es (auch im Camp selbst werde ich, ohne danach gefragt zu haben, mit dieser Erzählung konfrontiert). Wie sonst sollten so viele Menschen binnen so kurzer Zeit aus einem überfüllten Lager fliehen, ohne sich zu Tode zu trampeln oder zu verbrennen? Zudem sei doch eigentlich schon seit Langem bekannt, wie es um die Situation auf der Insel bestellt ist. Es hatte in der Vergangenheit mehr als nur eine Petition, mehr als nur einen Aufruf gegeben, schleunigst etwas daran zu ändern.
Die Bilder und die Augenzeugenberichte verfehlen ihre Wirkung nicht, und sie verfehlen sie doch: Eine knappe Woche nach dem Brand verkündet der deutsche Innenminister Horst Seehofer, Deutschland nehme eintausendfünfhundertunddreiundfünfzig Menschen auf (die Zahl erscheint in ihrer Beliebigkeit genauso merkwürdig, wie sie sich ausgeschrieben liest). Der Nebensatz, dass es sich dabei nicht allein um ein Kontingent für Lesbos, sondern für sämtliche griechische Inseln handelt (denn auch auf Samos, Chios, Leros und Kos sitzen Menschen fest; insgesamt sind es an die fünfunddreißigtausend), bleibt geflissentlich unerwähnt. Und je mehr Tage vergehen mit der politischen Diskussion, wie diese Maßnahme zu beurteilen sei, wie überhaupt verfahren werden sollte, ob ›ein deutscher Alleingang‹ das richtige Mittel sei, um die Situation zu entspannen, ob man sich damit nicht erpressbar mache, desto unaufhaltsamer wächst auf Lesbos ein neues Camp heran. Es liegt keine fünf Autominuten vom alten Camp entfernt, nur nicht im Inland, zwischen Olivenbäumen, sondern auf einer Art Halbinsel, die wie ein Sporn ins Meer ragt. Kara Tepe, so lautet der Name des Ortes, zu Deutsch ›Schwarzer Hügel‹. Es gibt Berichte, wonach längst nicht alle aus dem alten in das neue Camp übersiedeln wollten. Doch schon anderthalb Wochen nach dem Brand ist der ›Umzug‹ ohne größere Zwischenfälle, ohne den erwarteten Knall so gut wie abgeschlossen. Die meisten Kamerateams besteigen die Flugzeuge zurück in die Städte ihrer Redaktionssitze. Am Samstag, dem 19. September, ist der eine Woche zuvor eingerichtete Themenschwerpunkt ›Lesbos‹ aus der Audiothek des Deutschlandfunk wieder verschwunden.
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