Die Leiden des jungen Werther. Johann Wolfgang von Goethe

Die Leiden des jungen Werther - Johann Wolfgang von Goethe


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wechselsweise über den Anzug, vorzüglich über die Hüte ihre Anmerkungen gemacht, und die Gesellschaft, die man erwartete, gehörig durchgezogen, als Lotte den Kutscher halten, und ihre Brüder herabsteigen liess, die noch einmal ihre Hand zu küssen begehrten, das denn der älteste mit aller Zärtlichkeit, die dem Alter von fünfzehn Jahren eigen sein kann, der andere mit viel Heftigkeit und Leichtsinn tat. Sie liess die Kleinen noch einmal grüssen, und wir fuhren weiter.

      Die Base fragte, ob sie mit dem Buche fertig wäre, das sie ihr neulich geschickt hätte? Nein, sagte Lotte, es gefällt mir nicht, Sie können’s wieder haben. Das vorige war auch nicht besser. — Ich staunte, als ich fragte, was es für Bücher wären? und sie mir antwortete: 2 ) — Ich fand so viel Charakter in allem was sie sagte, ich sah mit jedem Worte neue Reize, neue Strahlen des Geistes aus ihren Gesichtszügen hervorbrechen, die sich nach und nach vergnügt zu entfalten schienen, weil sie an mir fühlte, dass ich sie verstand.

      Wie ich jünger war, sagte sie, liebte ich nichts so sehr, als Romane. Weiss Gott, wie wohl mir’s war, wenn ich mich Sonntags so in ein Eckchen setzen, und mit ganzem Herzen an dem Glück und Unstern einer Miss Jenny teilnehmen konnte. Ich leugne auch nicht, dass die Art noch einige Reize für mich hat. Da ich doch so selten an ein Buch komme, so müssen sie auch recht nach meinem Geschmack sein. Und der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem es zugeht, wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant und herzlich wird, als mein eigen häuslich Leben, das freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist.

      Ich bemühte mich, meine Bewegung über diese Worte zu verbergen. Das ging freilich nicht weit: denn da ich sie mit solcher Wahrheit im Vorbeigehen vom Landpriester von Wakefield, von 3 ) — reden hörte, kam ich ganz ausser mich, sagte ihr alles was ich wusste, und bemerkte erst nach einiger Zeit, da Lotte das Gespräch an die anderen wendete, dass diese die Zeit über mit offenen Augen, als sässen sie nicht da, dagesessen hatten. Die Base sah mich mehr als einmal mit einem spöttischen Näschen an, daran mir aber nichts gelegen war.

      Das Gespräch fiel aufs Vergnügen am Tanze. Wenn diese Leidenschaft ein Fehler ist, sagte Lotte, so gestehe ich Ihnen gern, ich weiss mir nichts übers Tanzen. Und wenn ich was im Kopfe habe, und mir auf meinem verstimmten Klavier einen Kontretanz vortrommle, so ist alles wieder gut.

      Wie ich mich unter dem Gespräche in den schwarzen Augen weidete! wie die lebendigen Lippen, und die frischen muntern Wangen meine ganze Seele anzogen! wie ich, in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz versunken, oft gar die Worte nicht hörte, mit denen sie sich ausdrückte! — davon hast Du eine Vorstellung, weil Du mich kennst. Kurz, ich stieg aus dem Wagen wie ein Träumender, als wir vor dem Lusthause still hielten, und war so in Träumen rings in der dämmernden Welt verloren, dass ich auf die Musik kaum achtete, die uns von dem erleuchteten Saal herunter entgegenschallte.

      Die zwei Herren von Adrian und ein gewisser N. N. — wer behält alle die Namen! — die der Base und Lottens Tänzer waren, empfingen uns am Schlage, bemächtigen sich ihrer Frauenzimmer, und ich führte die meinige hinauf.

      Wir schlugen uns in Menuetts umeinander herum; ich forderte ein Frauenzimmer nach dem andern auf, und i just die unleidlichsten konnten nicht dazu kommen, einem die Hand zu reichen und ein Ende zu machen. Lotte und ihr Tänzer fingen einen Englischen an, und wie wohl mir’s war, als sie auch in der Reihe die Figur mit uns anfing, magst Du fühlen. Tanzen muss man sie sehen! Siehst Du, sie ist so mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dabei, ihr ganzer Körper eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen, als wenn sie sonst nichts dächte, nichts empfände; und in dem Augenblick gewiss schwindet alles andere von ihr.

      Ich bat sie um den zweiten Kontretanz; sie sagte mir den dritten zu, und mit der liebenswürdigsten Freimütigkeit von der Welt versicherte sie mir, dass sie herzlich gern deutsch tanze. Es sei hier so Mode, fuhr sie fort, dass jedes Paar, das zusammen gehört, beim Deutschen zusammenbleibt, und mein Chapeau walzt schlecht, und dankt mir’s, wenn ich ihm die Arbeit erlasse. Ihr Frauenzimmer kann’s auch nicht, und mag nicht, und ich habe im Englischen gesehen, dass Sie gut walzen; wenn Sie nun mein sein wollen fürs Deutsche, so gehen Sie, und bitten sich’s von meinem Herrn aus, und ich will zu Ihrer Dame gehen. — Ich gab ihr die Hand darauf, und wir machten aus, dass ihr Tänzer inzwischen meine Tänzerin unterhalten sollte.

      Nun ging’s an, und wir ergötzten uns eine Weile an mannigfaltigen Schlingungen der Arme. Mit welchem Reize, mit welcher Flüchtigkeit bewegte sie sich! und da wir nun gar ans Walzen kamen, und wie die Sphären umeinander herum rollten, ging’s freilich anfangs, weil’s die wenigsten können, ein bisschen bunt durcheinander. Wir waren klug, und liessen sie austoben; und als die Ungeschicktesten den Platz geräumt hatten, fielen wir ein und hielten mit noch einem Paare, mit Audran und seiner Tänzerin, wacker aus. Nie ist mir’s so leicht vom Flecke gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das liebenswürdigste Geschöpf in den Armen zu haben, und mit ihr herumzufliegen wie Wetter, dass alles rings umher verging, und — Wilhelm, um ehrlich zu sein, tat ich aber doch den Schwur, dass ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich Ansprüche hätte, mir nie mit einem andern walzen sollte, als mit mir, und wenn ich darüber zugrunde gehen müsste. Du verstehst mich!

      Wir machten einige Touren gehend im Saale, um zu verschnaufen. Dann setzte sie sich, und die Orangen, die ich beiseite gebracht hatte, die nun die einzigen noch übrigen waren, taten vortreffliche Wirkung, nur dass mir mit jedem Schnittchen, das sie einer unbescheidenen Nachbarin ehrenhalber zuteilte, ein Stich durchs Herz ging.

      Beim dritten englischen Tanz waren wir das zweite Paar. Wie wir die Reihe durchtanzen, und ich, weiss Gott mit wie viel Wonne, an ihrem Arm und Auge hing, das voll vom wahrsten Ausdruck des offensten, reinsten Vergnügens war, kommen wir an eine Frau, die mir wegen ihrer liebenswürdigen Miene auf einem nicht mehr ganz jungen Gesichte merkwürdig gewesen war. Sie sieht Lotten lächelnd an, hebt einen drohenden Finger auf und nennt den Namen Albert zweimal im Vorbeifliegen mit Bedeutung.

      Wer ist Albert, sagte ich zu Lotten, wenn’s nicht Vermessenheit ist zu fragen? Sie war im Begriff zu antworten, als wir uns scheiden mussten, um die grosse Achte zu machen, und mich dünkte, einiges Nachdenken auf ihrer Stirn zu sehen, als wir so voreinander vorbeikreuzten. — Was soll ich’s Ihnen leugnen, sagte sie, indem sie mir die Hand zur Promenade bot, Albert ist ein braver Mensch dem ich so gut als verlobt bin! — Nun war mir das nichts neues (denn die Mädchen hatten mir’s auf dem Wege gesagt) und war mir doch so ganz neu, weil ich es noch nicht im Verhältnis auf sie, die mir in so wenig Augenblicken so wert geworden war, gedacht hatte. Genug, ich verwirrte mich, vergass mich und kam zwischen das unrechte Paar hinein, dass alles drunter und drüber ging, und Lottens ganze Gegenwart und Zerren und ziehen nötig war, um es schnell wieder in Ordnung zu bringen.

      Der Tanz war noch nicht zu Ende, als die Blitze, die wir schon lange am Horizonte leuchten gesehen, und die ich immer für Wetterkühlen ausgegeben hatte, viel stärker zu werden anfingen, und der Donner die Musik überstimmte. Drei Frauenzimmer liefen aus der Reihe, denen ihre Herren folgten; die Unordnung wurde allgemein, und die Musik hörte auf. Es ist natürlich, wenn uns ein Unglück oder etwas Schreckliches im Vergnügen überrascht, dass es stärkere Eindrücke auf uns macht als sonst, teils wegen des Gegensatzes, der sich so lebhaft empfinden lässt, teils und noch mehr, weil unsere Sinne einmal der Fühlbarkeit geöffnet sind, und also desto schneller einen Eindruck annehmen. Diesen Ursachen muss ich die wunderbaren Grimassen zuschreiben, in die ich mehrere Frauenzimmer ausbrechen sah. Die klügste setzte sich in eine Ecke, mit dem Rücken gegen das Fenster, und hielt die Ohren zu. Eine andere kniete vor ihr nieder und verbarg den Kopf in der ersten Schoss. Eine dritte schob sich zwischen beide hinein, und umfasste ihre Schwesterchen mit tausend Tränen. Einige wollten nach Hause; andere, die noch weniger wussten, was sie taten, hatten nicht soviel. Besinnungskraft, den Keckheiten unserer jungen Schlucker zu steuern, die sehr beschäftigt zu sein dienen, alle die ängstlichen Gebete, die dem Himmel bestimmt waren, von den Lippen der schönen Bedrängten wegzufangen. Einige unserer Herren hatten sich hinab begeben, um ein Pfeifchen in Ruhe zu rauchen, und die übrige Gesellschaft schlug es nicht aus, als die Wirtin auf den klugen Einfall kam, uns ein Zimmer anzuweisen, das Läden und Vorhänge hätte. Kaum waren wir da angelangt, als Lotte beschäftigt war, einen Kreis von Stühlen zu stellen, und als sich die Gesellschaft auf ihre Bitte gesetzt hatte, den Vortrag zu einem


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