Praxis und Methoden der Heimerziehung. Katja Nowacki
erzwungenen Arbeit ohne Lohn ehemaliger Heiminsassen zu erreichen,
•die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Heimerziehung der 50er, 60er und 70er Jahre (Der Verein ehemaliger Heimkinder e. V. 2008, S. 78).
Dieser Verein wandte sich, um Unterstützung für diese Zielsetzungen zu erhalten, an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages. Nach mehreren Anhörungen empfahl der Petitionsausschuss am 26. November 2008 dem Bundestag die Einrichtung eines „Runden Tisches“.
„Der Petitionsausschuss sieht und erkennt erlittenes Unrecht und Leid, das Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Kinder- und Erziehungsheimen in der alten Bundesrepublik in der Zeit zwischen 1945 und 1970 widerfahren ist und bedauert das zutiefst“ (Deutscher Bundestag – Petitionsausschuss – 2008, S. 12).
Dieser Runde Tisch solle vor allem die Heimerziehung unter den damals rechtlichen, pädagogischen und sozialen Bedingungen und deren negativen Folgen aufarbeiten, zugefügtes Unrecht prüfen sowie Lösungen entwickeln und aufzeigen (S. 13 f.). Der Runde Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ konstituierte sich im Februar 2009 unter dem Vorsitz der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Anke Vollmer.
Im Zwischenbericht des Runden Tisches wurde u. a. resümiert:
„Häufig waren Heime keine Schutzräume, sondern Orte, in denen körperliche und psychische Misshandlungen und in manchen Fällen offenbar auch sexuelle Gewalt möglich waren und nicht oder nur unzureichend unterbunden oder geahndet wurden. Es war möglich, dass sich in Heimen repressive und rigide Erziehung etablierte, die in geschlossenen Systemen jedes Maß verlor. Aufsichts- und Kontrollinstanzen, sowohl einrichtungs- und trägerintern als auch extern und staatlich, waren offenbar nicht in der Lage oder gewillt, diese Missstände – selbst wenn sie bekannt waren – abzustellen“ (Zwischenbericht des Runden Tisches 2010, S. 46).
Im Januar 2011 legte der Runde Tisch seinen Abschlussbericht vor. Darin wird anerkannt, „dass es in der Heimerziehung vielfaches Unrecht und Leid gab. Dabei wird deutlich, dass es in der Heimerziehung der frühen Bundesrepublik zu zahlreichen Rechtsverstößen gekommen ist, die auch nach damaliger Rechtslage und deren Auslegung nicht mit dem Gesetz und auch nicht mit pädagogischen Überzeugungen vereinbar waren. Elementare Grundsätze der Verfassung wie das Rechtsstaatsprinzip, die Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Recht auf persönliche Freiheit und körperliche Integrität fanden bei weitem zu wenig Beachtung und Anwendung“ (Abschlussbericht des Runden Tisches 2010, S. 29).
Neben der Anerkennung des erlittenen Unrechts und der Bitte um Verzeihung, empfahl der Runde Tisch eine materielle Unterstützung, damit Betroffene traumatische Erfahrungen oder andere Folgeschäden der Heimerziehung mit fachlicher Hilfe aufarbeiten können sowie einen finanziellen Ausgleich, wenn im Einzelfall Rentenansprüche vermindert sind, weil während der Heimunterbringung eigentliche vorgesehene Sozialversicherungsbeiträge nicht gezahlt wurden. Der Deutsche Bundestag beschloss im Juli 2011 eine weitgehende Übernahme der Empfehlungen des Rundes Tisches. In der Folge gründeten der Bund, westdeutsche Länder sowie die Kirchen einen Fond, aus dem berechtigte Ansprüche von Betroffenen in Form von Sachleistungen gezahlt werden können. Im Jahr 2012 gründeten Bund sowie ostdeutsche Länder einen weiteren Fond „Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949–1990“. Ehemalige Heimkinder der früheren DDR können hier einen Ausgleich für nicht angerechnete Sozialversicherungszeiten beantragen.
„Die Vertreter der Heimkinder halten diese Regelungen jedoch für völlig unzureichend. Sie fordern Entschädigungen für alle früheren Heimkinder. Nach ihren Vorstellungen soll den Opfern eine Pauschalzahlung von 54.000 Euro oder eine Monatsrente von 300 Euro zustehen. Diese Forderung hatten Vollmer und die Vertreter von Bund, Ländern und Heimträgern aber als unrealistisch und unbezahlbar zurückgewiesen“ (IGFH 2011).
Auch bei der Beteiligung am Runden Tisch Heimerziehung bzw. bei der Umsetzung von Entschädigungszahlungen gibt es Kritik von Betroffenen. Sie äußerten sich, sich nicht ausreichend gehört gefühlt zu haben und Unverständnis über langwierige Prozesse bei der Beantragung von Entschädigungen (Struck 2011; Munsch et al. 2011).
In einer neueren Forschungsarbeit hat sich Sylvia Wagner mit weiterem Unrecht beschäftigt, das den Menschen, die in Heimen zwischen 1950 und 1975 in der Bundesrepublik Deutschland aufwuchsen, widerfahren ist. So hat sie in ihren Recherchen herausgefunden, dass es mindestens 50 Medikamentenversuche ohne Einwilligung von Betroffenen oder Sorgeberechtigen in den großen Institutionen gab, unter deren Auswirkungen Betroffene heute noch leiden (Wagner 2016).
Der Verein ehemaliger Heimkinder (2019) fordert entsprechend weitergehende Opferentschädigungen und Opfergleichstellung.
Reformen und ihre Auswirkungen
Nach und nach konnten die politisch und auch gesellschaftlich anerkannten Forderungen nach Reformen in der Praxis der Heimerziehung realisiert werden. Vor allem wurde dafür gesorgt, dass pädagogisch gut ausgebildetes Personal in den Heimen arbeitet und entsprechende Richtlinien der Heimaufsichtsbehörden wurden erlassen. Im Laufe der Jahre verringerte sich die Gruppengröße immer mehr, sodass heute durchschnittlich acht bis zehn Kinder/Jugendliche von vier pädagogischen Mitarbeiter*innen betreut werden. In Intensivwohngruppen kann der Betreuungsschlüssel teilweise noch besser sein, sodass fast auf jedes Kind oder Jugendlichen eine Betreuungskraft kommt. Diese aus pädagogischen Gründen zu begrüßende Strukturveränderung und Qualifizierung hatte allerdings ganz erhebliche Kostensteigerungen zur Folge. Ungefähr 70 bis 80 % der Heimkosten resultierten aus Personalkosten.
Nicht nur unter pädagogischen, sondern auch unter finanziellen Gesichtspunkten wurde und wird daher versucht, Heimerziehung zu vermeiden. In den letzten 40 Jahren wurden vorbeugende oder alternative Maßnahmen, die Schwierigkeiten bei Kindern in ihrer Entstehung verhindern oder ambulant abbauen können, verstärkt. Als solche ambulante oder teilstationäre Erziehungshilfen, die einem Kind den Heimaufenthalt unter Umständen ersparen können, wären zu nennen:
•Erziehungsberatung,
•Soziale Gruppenarbeit,
•Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer,
•Sozialpädagogische Familienhilfe,
•Erziehung in einer Tagesgruppe.
Diese Hilfen stehen im Kinder- und Jugendhilfegesetz auch explizit in den Paragraphen 27 ff. SGB VIII.
Der außerdem zu Beginn der 1970er-Jahre gewaltige Ausbau des Pflegekinderwesens hat Heimerziehung in sehr vielen Fällen ersetzen können. Aus pädagogischen Gründen werden vor allem Kleinstkinder und Kinder im Vorschulalter nur noch selten in einem Heim untergebracht und Pflegefamilien vorgezogen.
Die begrüßenswerte Tatsache, dass in vielen Fällen die vorbeugenden und alternativen Maßnahmen erfolgreich waren und ein Heimaufenthalt nicht mehr notwendig wurde, hat aus der Sicht der Heimerziehung zu einer gewaltigen Erschwerung der täglichen Praxis geführt; denn in den Heimen verblieben vor allem die Kinder und Jugendlichen, die nicht in Pflegestellen vermittelt werden konnte und erst mit massiven Problemen und nach längerer Zeit ungünstiger Bedingungen in familiären Strukturen aufgenommen wurden.
Bisweilen konnten regelrechte Kampagnen beobachtet werden; Heimerziehung wurde verteufelt, die Jugendämter beschuldigt, weil sie pädagogisch verantwortungslos viel zu wenige Heimkinder in Pflegefamilien vermittelt hätten. Zwar melden sich viel mehr Bewerber*innen bei den Jugendämtern als Pflegeverhältnisse vereinbart werden, hierbei gilt es jedoch, die Erfahrung der Pflegevermittlungen in den Jugendämtern zu beachten. Von 100 Anfragen nach Pflegekindern bleiben durchschnittlich nur zwei bis drei Eltern übrig, denen ein Pflegekind verantwortungsvoll vermittelt werden kann. Bei den anderen waren die Anfrage und die zugrundeliegende Motivation oft nur von kurzer Dauer – bisweilen aus spontanen sentimentalen Anlässen heraus geschehen – in anderen Fällen war die Motivation der Pflegeelternbewerber*innen oder deren häusliche Situation völlig ungeeignet, um dem Wohl von Pflegekindern zu entsprechen.