Der neue Dr. Laurin Box 2 – Arztroman. Viola Maybach
löste sie ihre Hand aus seiner.
»Meine Tante wird bald hier sein. Wenn du nicht willst, dass sie uns zusammen sieht – oder wenn du ihr nicht begegnen willst, sollte ich lieber gehen und sie draußen abfangen.«
Miro griff erneut nach ihrer Hand und hielt sie noch fester als zuvor. »Wir bleiben«, sagte er.
*
»Wir müssen noch einmal mit ihm reden«, sagte Rainer. »Natürlich muss er sich operieren lassen, das ist seine einzige Chance, wieder gesund zu werden.«
Anke sagte nichts, sie weinte schon wieder. Im Grunde hatte sie nicht aufgehört zu weinen, seit sie die Kayser-Klinik verlassen hatten, so dass jetzt auch Flora mitbekommen hatte, dass etwas nicht stimmte. Aber mit ihr mussten sie ohnehin reden, es hatte ja keinen Sinn, ihr weiterhin zu verschweigen, dass Miro krank war, schwer krank.
Als das Telefon klingelte, wollten sie es zuerst klingeln lassen, bis Rainer sah, wer der Anrufer war. Hastig nahm er das Gespräch entgegen. »Miro?«, rief er. »Soll ich dich abholen? Wie bitte?«
Nach diesen Worten blieb es still. So lange, dass Anke schließlich aufhörte zu weinen und mit angehaltenem Atem ihren Mann beobachtete, der abwechselnd rot und blass wurde und schließlich stammelte. »Ja, gut, ja, natürlich … wir sind gleich da.«
»Was ist denn?«, fragte Anke ängstlich.
»Er lässt sich operieren. Sie haben den Eingriff für morgen früh angesetzt. Sie bereiten ihn jetzt darauf vor, aber er möchte, dass wir noch einmal bei ihm vorbeikommen, wenn es geht, mit Flora.«
»Aber wieso …?« Anke konnte es noch immer nicht glauben.
»Frag mich nicht. Er war ziemlich durcheinander und so hat er auch geredet. Nur eins glaube ich verstanden zu haben: Er hat eine junge Frau kennengelernt und sich lange mit ihr unterhalten. Offenbar hat sie ihn so beeindruckt, dass er daraufhin seine Meinung geändert hat.«
Flora erschien an der Tür, sie war im Bad gewesen, ansonsten war sie brav im Bett geblieben. Mit großen Augen sah sie von ihrer Mutter zu ihrem Vater und wieder zurück. »Was ist mit Miro?«, fragte sie mit ganz dünnem Stimmchen.
»Wir fahren jetzt zu ihm in die Klinik, mit dir«, antwortete Rainer. »Er muss operiert werden, Flora, und er möchte uns vorher noch einmal sehen.«
Sie nahmen ein Taxi zur Klinik, und auf dem Weg dorthin erzählten sie Flora, was sie unbedingt wissen musste. Sie versuchten, ihr keine Angst zu machen, aber sie beschönigten die Situation auch nicht. Es gab Grund genug, Angst um Miro zu haben, und es hatte ja wenig Sinn, Flora in Sicherheit zu wiegen, wenn es diese Sicherheit nicht gab.
Er war nicht allein, als sie sein Zimmer betraten: Eine bemerkenswert hübsche junge Frau war bei ihm, die Frau Dr. Erdem ähnlich sah. Sie stellte sich als Selina Özer vor, Linda Erdems Nichte. Von dem Gespräch, das Miro und sie zuvor geführt hatten, berichteten dann beide.
Selina hatte ein feines Gespür für die Situation, und so schlug sie vor, mit Flora ins Café der Klinik zu gehen und dort Getränke für alle zu holen – außer für Miro, denn er sollte vor der Operation nichts mehr zu sich nehmen.
Flora war bereit, ihr zu folgen, und Anke und Rainer dankten ihr mit Blicken, dass sie ihnen auf diese Weise noch ein Gespräch allein mit ihrem Sohn ermöglichte.
*
Eckart Sternberg würde Linda bei der Operation assistieren, Leon würde ebenfalls im Operationssaal anwesend sein – er war ja noch immer begierig, dazuzulernen – jedoch keine Funktion übernehmen.
»Geh nach Hause, Linda«, sagte er jetzt, nachdem sie alles durchgesprochen hatten. Mit einer so schnellen Sinnesänderung des jungen Patienten hatte niemand gerechnet, dennoch wollten sie den Eingriff so früh wie möglich durchführen. Sie hatten zunächst erwogen, den Tumor mit Hilfe von Medikamenten zum Schrumpfen zu bringen, sich dann jedoch gegen diese Möglichkeit entschieden. »Ruh dich aus, damit du morgen fit bist.«
»Keine Sorge«, erwiderte sie, »ich werde fit sein, aber Ruhe werde ich heute Nacht nicht finden, das weiß ich aus Erfahrung. Ich kenne die Aufnahmen auswendig, dennoch werde ich sie noch länger studieren, ich will sicher sein, dass ich den richtigen Weg wähle für diesen Eingriff.«
»Würde es Ihnen helfen, noch einmal darüber zu reden?«, fragte Eckart. »Mir noch einmal zu erklären, wie genau Sie vorgehen wollen?«
»Gute Idee«, sagte sie. »Also, wir fangen hier an …«
Sowohl Leon als auch Eckart lauschten ihr aufmerksam. Sobald ihnen etwas unklar war, stellten sie Fragen, und sie merkten bald, wie sicher Linda Erdem war, wie genau sie sich den Ablauf des Eingriffs überlegt hatte.
Als sie schwieg, lächelte sie und sagte dann: »Danke, das war sehr hilfreich für mich. Meine letzten Zweifel sind ausgeräumt. Wir sehen uns morgen früh um sieben im OP.«
Als sie gegangen war, sagte Eckart nur ein Wort: »Sehr beeindruckend, die neue Kollegin!«
*
»Wir fahren jetzt nach Hause, Miro«, sagte Rainer. »Flora schläft schon, und du hast einen langen und schweren Tag vor dir. Oder möchtest du, dass einer von uns bei dir bleibt?«
»Auf keinen Fall«, sagte Miro. »Die Ärzte wissen ja jetzt, was mit mir los ist, sie haben gesagt, sie geben mir ein Schlafmittel, damit ich Ruhe finde. Und morgen bekomme ich auch gleich etwas, damit erst gar keine Panik aufkommen kann. Denkt an mich – und kommt morgen nicht zu früh her, ich werde ja wahrscheinlich erst gegen Abend wach.«
Sie küssten ihn, Anke streichelte sein Gesicht, sagte aber nichts mehr. Rainer trug Flora aus dem Zimmer. An der Tür drehten sie sich noch einmal zu ihrem Sohn um, dann gingen sie.
Wenig später wurde die Tür erneut geöffnet, und Selina erschien. »Ich wollte dir noch eine gute Nacht wünschen«, sagte sie, »bevor sie dir gleich dein Schlafmittel geben.«
»Ich hatte gehofft, dich noch einmal zu sehen«, gestand er. »Danke für alles, Selina.«
»Oh, ich verfolge meine eigenen egoistischen Pläne«, erklärte sie. »Weißt du, ich bin anfällig für schöne blaue Augen und lockige blonde Haare – und wenn ich dann noch eine so anrührende Geschichte erzählt bekomme, kann ich einfach nicht widerstehen. Also mach meiner Tante die Arbeit leicht, denk, bevor sie dich in Narkose versetzen, an etwas Schönes.«
»An dich zum Beispiel?«
Ihr Lächeln war strahlend. »An mich zum Beispiel. Ich habe dir ja schon gesagt, dass ich dich unbedingt besser kennenlernen will, und das geht natürlich nur, wenn du wieder aufwachst und mich erkennst.«
Er wollte etwas erwidern, doch daran hinderte sie ihn, indem sie ihm den Mund mit ihren weichen Lippen verschloss. Er vergaß seine Panik vor der Operation, seinen Tumor, alles, was ihm das Herz beschwerte und reagierte wie wohl jeder Mann an seiner Stelle reagiert hätte: Er schloss seine Arme um diese schöne junge Frau, die so unvermutet in sein Leben getreten war, und erwiderte ihren Kuss.
Als sie sich voneinander lösten, glänzten Selinas Augen. »Das war doch mal eine Ansage«, flüsterte sie. »Du und ich, wir werden noch viel miteinander erleben.«
Er zog sie noch einmal an sich, denn ganz flüchtig hatte sich doch wieder dieser eine Gedanke eingeschlichen, den er schon beim Besuch seiner Eltern und seiner kleinen Schwester beharrlich zu verdrängen versucht hatte: Vielleicht ist es das letzte Mal, also nutze die Zeit …
*
Als Linda die Wohnung betrat, war es nach Mitternacht. Sie würde ein paar Stunden schlafen und spätestens um fünf wieder aufstehen, das wusste sie bereits. Vor einer solchen Operation stand sie unter starker Anspannung, aber sie war ein Mensch, der auf diese Art von Stress mit erhöhter Konzentration und Leistungsfähigkeit reagierte. Das war schon immer so gewesen, auch während des Studiums, bei Prüfungen. Wo andere unter dem Druck zusammengebrochen waren, war sie stärker geworden. Wenn sie herausgefordert wurde, schwang sie sich zu Höchstleistungen auf.
Zu